Wagen wir den Neuanfang!
Das Theaterstück «MyState» stellt das demokratische Staatsmodell auf die Probe


In der Basler Kaserne gründet die Zürcher Theatergruppe Far A Day Cage auf höchst amüsante Weise ihren eigenen Staat.
Sieben Urzeitphysiognomien versammeln sich zum gemeinsamen Schmatzen. In den ersten Minuten von «Mystate» zeigt die Zürcher Theatergruppe Far A Day Cage in rasendem Tempo die Entwicklung des Menschen, von seiner Emanzipation vom Geruchssinn zur Herausbildung eines sozialen Gewissens, durch die Zeit in die Neuzeit in Jetzt der Basler Kaserne.
Evolution.
Im idyllischen Ambiente eines Einfamilienhauses mit grün-duftendem Garten ruft hier eine Gemeinschaft von sieben Frauen und Männern ihren eigenen Staat in Leben. Im überschaubaren Mikrokosmos einer Lebensgemeinschaft stellt die Gruppe um Regisseur Tomas Schweigen unser demokratisches Staatsmodell auf die Probe, indem sie einen Schritt zurückgeht und einen Neuanfang wagt. Was überhaupt ist Staat? Und inwiefern lässt sich Staat mit Freiheit vereinbaren? Das verspielte Bühnenbild von Stephan Weber lädt dabei zum kindlichen – und nicht kindischen - Umgang mit der Frage ein. Die Ästhetik der Inszenierung erinnert an ein Bilderbuch, in dem mit jeder neuen Seite die Welt sich verdoppelt und komplexer wird. Über das lustvolle und teilweise äusserst komische Ausspielen solcher Automatismen zeigen Far A Day Cage auf, wie aus der ersten Freiheit des Staatsgründungsaktes schnell einmal eine relative wird. Für den Mikrostaat stellen sich bald Probleme der Anerkennung wie der Abgrenzung. Der Gartenzaun wird zur Staatsgrenze erhoben, über die nach Freunden Ausschau gehalten wird und über die Feinde hinausbugsiert werden.
Revolution.
Die Gruppe will kein griffiges Welterklärungskonzept servieren. Mit ihren aberwitzigen, immer mehrschichtigen Bildern lädt sie den Zuschauer vielmehr zum Nachdenken ein. Ohne das Denken des Zuschauers ist das Stück nur ein halbes, so wie die Staatsform als solche immer nur ein abstrakter Entwurf bleibt. Der revolutionäre Akt, der Far A Day Cate mit dieser klugen, zurückhaltenden Inszenierung gelingt, besteht darin, dass sie die Möglichkeit eines Neuanfangs im Denken verorten, als dem Ort, wo das Unmögliche möglich werden könnte.
(Basler Zeitung; 26.Januar 2011/ Lukas Linder)

MyState – Tomas Schweigen zelebriert eine komische Staatsgründung Die Garten-WG sind wir!


Jena, 28. April 2010. Im Englischen gibt es das praktische Wort backyard, das den Hinterhof bezeichnet, aber auch den kleinen Garten hinter dem Reihenhaus. In so einem backyard - in diesem Fall ist es der kleine Garten - spielt Tomas Schweigens neues Stück »MyState«. Die Kulisse ist mit Bedacht gewählt. Sie setzt dem Geschehen gewissermaßen die Krone der Kleinbürgerlichkeit auf, verlacht es mit Zutaten aus der Welt der Gardena Gartenschläuche. Aber vielleicht ist es ja grundverkehrt, wenn man sich eine Staatsgründung als ein großes, reihenhausübergreifendes Ereignis vorstellt.
Gut zwei Jahrzehnte ist es her, dass die Parole »Wir sind das Volk!« einen bestehenden Staat und seine Eliten hinweggefegt hat. Höchste Zeit eigentlich, die historisch noch etwas ältere Geschichte "Wir sind die WG!" mal wieder auszuprobieren, nun allerdings in der Variante "Die WG sind wir!". Im Reihenhaus von Schweigens Lieblingsbühnenbildner Stephan Weber wohnt nämlich keineswegs eine Kleinfamilie, sondern eine Kommune aus sieben mutmaßlichen Singles, hochsemestrige Studenten vielleicht oder Berufstätige, die sich für kein anderes Leben entscheiden können.
Die Tücken der Souveränitätsgewinnung
Trotz einschlägiger Lektüre - Erwin S. Strauss' Separatistenbibel »How to start your own country« - haben die Kommunarden allerdings wenig bis nichts mit den Revoluzzern von 1968 ff. gemein. Es sind eher brave, kaum aufmüpfige und obendrein namenlose Leute, die morgens maulfaul sind, in Unterwäsche oder Bademantel im Garten vorbeischauen und feinsäuberlich ein Handtuch unterlegen, wenn sie sich im weiteren Verlauf des Tages ein Sonnenbad gönnen. Aber unabhängig und selbstbestimmt wollen sie sein! Irgendwie! Und bestehe der Mikrostaat nur aus 100 Quadratmetern Normalrasen mit Blumenbeet und Ginsterbusch!
Tomas Schweigen, der »MyState« zusammen mit seiner Züricher Theatergruppe Far a Day Cage für das Theaterhaus Jena (aktuelles Spielzeitmotto: "Letzte Ausfahrt Utopie") und sechs weitere kooperierende Bühnen entwickelt hat, geht es nicht um einen grotesk angespitzten Kommentar zur Zeitgeschichte. Er hat auch nicht den Separatisteneifer von Thomas Freyer. Es ist eher ein allgemeines Utopiebedürfnis, aus dem heraus eine sehr liebenswerte, teils aberwitzige Parabel über die Tücken der Souveränitätsgewinnung und die Konventionen von Staatlichkeit und Repräsentanz entstanden ist. Wer will, kann in »MyState« den Abgesang auf den Nationalstaat heraushören und das betont unpathetische Hohelied auf die Community. Man muss das aber nicht.
Affen und der Anfang einer Gemeinschaft
Der Zeitgeschichte am deutlichsten entrückt ist das Vorspiel. Fast wie in Stanley Kubricks cineastischem Geniestreich »2001 - Odyssee im Weltraum« erscheinen die späteren WG-Bewohner zunächst als Affen (allerdings ohne Affenkostüm). Ängstlich wagen sie sich aus finsterer Nacht zuerst in einen, dann in zwei Lichtkegel, werden darin heimisch, schmatzen, fressen, streiten, erleben die Konflikte der Gemeinschaftsbildung und das Drama von Macht, Rivalität und Ausschluss, um alsbald die Möglichkeiten der Bewaffnung zu entdecken und der Logik des Wettrüstens zu erliegen. Die Geschichte der Staatenbildung wird in zehn federleichten Minuten nacherzählt, ohne Worte, nur mit einer bildhaften und choreographischen Sprache.
In gewisser Weise ist »MyState« ein sehr unterhaltendes Lehrstück. Es handelt davon, wie aus einer Utopie im Handumdrehen eine Welt der Abgrenzung und Abschreckung wird. Zugleich ist der Abend ein anderthalbstündiges Erstaunen über die ganz normalen Kuriosa staatstragender Formen und Rituale. Die Komödie des militärischen Zeremoniells etwa, die Tomas Schweigen und seine sieben spielfreudigen Darsteller lustvoll auskosten, ist ebenso einfach wie haarsträubend. Das deutsche Theater kennt ja nun wahrlich viele Marsch- und Stechschritt-Parodien. Die hier sind aber besonders komisch.
Globale Mikrostaaterei
Der 1977 in Wien geborene Theatermacher Tomas Schweigens beschäftigt sich gerne mit menschlichen Auf- und Ausbrüchen. Er schafft dabei den Spagat zwischen freier Szene und Stadttheater und bastelt poppige, bisweilen überdreht wirkende Irrwitzstückchen wie »Second life« (2007), in dem der Avatar zum Thema einer Bibelstunde wurde. Seine neue, vom Premierenpublikum mit viel Beifall aufgenommene Arbeit ist vergleichsweise konzentriert, fast schon minimalistisch, dabei aber kein bisschen verkniffen.
Nebenbei ist »MyState« ein - wenn man so will: politisch brisanter - Hinweis auf und eine Recherche über das um sich greifende Phänomen der Mikrostaaten. Von "Sealand" vor der englischen Küste hat man vielleicht schon mal gehört, aber von Waveland, Nova Roma oder der Republik Molossia? Eine betont sachliche Stimme aus dem Off sorgt mit Infohäppchen für Aufklärung, und im Abspann ist auf der Videoleinwand das ganze Ausmaß der globalen Mikrostaaterei zu bestaunen.
(Nachtkritik; 29.April 2010/ Ralph Gambihler)

Theaterpremiere "My State" in Jena


Das Theaterhaus Jena hinterfragt mit seiner neuen Inszenierung "My State" soziales Modelldenken.
»Jeder Staat ist als solcher nur anerkannt, wenn er von anderen Staaten, die von anderen Staaten anerkannt sind, anerkannt wird« weiß die freundlich belehrende Stimme aus dem Lautsprecher. Logisch, meint der gebildete Bundesbürger des Jahres 2010 und freut sich über den »perfekten Staatsbürger«, wie er am Mittwochabend auf der Bühne des Theaterhauses Jena denkt, fällt und wieder aufsteht, eben funktioniert.
Wirklich logisch? Immerhin besagt doch die kluge Erkenntnis: Zur Staatsgründung gehören mindestens drei Staatengebilde Systeme, die sich gegenseitig als solche wahrnehmen. Das macht es alles andere als leicht, einfach mal so einen Zwergstaat zu gründen. Denn der Akt muss in seiner Dreistufigkeit zwangsläufig ein reflektierter sein. Nichts da: »L'état, c'est moi!« (Der Staat bin ich) Die Zeiten Ludwig XIV. sind ein für alle Mal vorbei. Alles muss seine Ordnung haben.
Dennoch wagen Regisseur Tomas Schweigen und die freie Theatergruppe Far a Day Cage in Kooperation mit dem Jenaer Theaterhaus, dem Theaterhaus Gessnerallee Zürich, der Kaserne Basel, WUK Wien, FFT Düsseldorf, HAU Berlin und TaK Schaan den Versuch und gründen im Reihenhaus ihren eigenen Mikrostaat. Mutig, mutig ... Und nicht nur das: witzig, witzig. Denn das Projekt »MyState« ist nicht nur politisch, sondern auch unterhaltsam in seiner Mischung aus Dokumentartheater, perfekt sitzender Slapsticks und Performancekunst.
Vier Männer und drei Frauen im Garten und Wintergarten einer Mini-Immobilie: Hier entsteht der Staat »My State«, der natürlich auch »your state« ist, wie es in Abwandlung des Standards »This land is your land« heißt: »from fence to backyard« (vom Vorderzaun zum Hintergarten) und »from wintergarden to the growing apple tree« (vom Wintergarten bis zum wachsenden Apfelbaum). In lose gefügten, aber dennoch aufeinander aufbauenden Szenen werden konkrete Antwortimpulse gegeben auf Fragen wie: Wie viel Staat braucht der Mensch? Wie viel Staat muss und wie viel darf sein? Ist der Nationalstaat in Zeiten der Globalisierung noch die adäquate Organisationsform?
Der Staat im Staat ist ein solcher wenn jemand wahrnimmt, dass er als solcher wahrgenommen wird. Der Gipfelpunkt des Staatenexperiments ist die mediale Aufbereitung, die rückbezogene Selbstinszenierung, die Konstruktion der Geschichte von der Staatsgründung. Dann kehrt im spießigen Gärtchen zwischen Lichterkette, Gartenzwerg und Buddelkasten wieder der Alltag ein - der eine oder andere Rollentausch, aber eigentlich, was ändert sich? Am ewigen Lauf des Universums wird das jedenfalls nicht drehen - oder doch?
Das Unding Staat und seinen Bürger nehmen Far a Day Cage so frech aufs Korn, dass der Eindruck einer wohldosierten und trotz aller Offenheit durchkomponierten Wechseldusche aus fast surrealistischen Elementen und intelligenter Abstraktion überwiegt. Am stärksten sind mit Sicherheit die musikalischen Rituale des Staates wie gibt man sich eine Hymne, und wie macht man
diese Publik? Das Zeug zum Selbstläufer haben die Morgenrituale der Staatsgründer in ihrer Variation.
(OTZ, 30.April.2010/ Dr. Tatjana Mehner)

Staats-Streiche im Hinterhof-Idyll: In Jenas Theaterhaus-Parzelle wird gerauft und gefiedelt


Allein wegen dieses Ohrwurms möchte man einen Antrag stellen auf Einbürgerung in ... - ja, was eigentlich? Kommune? Hinterhofgemeinschaft? Kleintheater-WG? Freunde des Gartenzwergs e. V.?
»My state, singen sie zu Cello, Schlagzeug und Gitarren, »this state is my state!« Die Melodie ist zwar geklaut - von Woody Guthrie nämlich, dessen Song »This Land is Your Land« einst zur Hymne der Entwurzelten und Entrechteten in den USA wurde -, doch sie wird hier nach Herzenslust live intoniert, verrockt, vergeigt und geschrammelt.
»MyState« – so nennt sich auch die jüngste Produktion im Theaterhaus Jena, die am Mittwoch Premiere hatte. Ein Projekt, für das sich das Zürcher Künstlerteam Far A Day Cage um Tomas Schweigen mit freien Theatergruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbündete. Der Trend, so der ironische Ansatz, führe weg vom anonymen, molochartigen Staatswesen, hin zu kleineren und kleinsten Gemeinschaften, mit denen sich der Bürger noch identifizieren kann. Nieder mit den Nationalstaaten! Es gedeihe das hübsch überschaubare Hinterhof-Idyll!
In »MyState« wird die Gründung eines solchen Mikro-Staates in einer Kleingartenparzelle durchgespielt – als Parodie auf wirkliche und gedachte Zustände. Man sieht allmorgendlich die Bewohner des Hauses ins Freie treten und sich im Garten, dem ureigenen Territorium, ergehen (naturalistische Ausstattung: Stephan Weber). Rauchen, rasieren, Kaffee trinken, Rasen sprengen – so der zum Ritual erstarrte Ablauf. Hin und wieder rauft man sich um ein schmales Handtuch und den Platz an der Sonne.
Doch als sich ein seltsam artikulierender Fremder einstellt und über Nacht ein Asylant sein Zelt aufschlägt, ist die Toleranzschwelle überschritten. Ein Verbotsschild wird in die Erde gerammt, Fahnenappelle und Militärparaden lösen einander ab, und nachts wacht nun immer einer mit der Kalaschnikow. Die Kommunarden von heute sind die Kleinbürger von gestern –dargestellt mit umwerfender Komik.
Tomas Schweigen, der in Jena schon »Second Life« und »Memento – Manifest für ein ewiges Leben« inszeniert hat, pflegt das gute alte Improvisationstheater im Stile eines Horst Hawemann. Es gibt keinen Text, nur ein Thema. Die Szenen werden gemeinsam mit den Schauspielern entwickelt und bei der Vorstellung teils per Live-Cam aufgezeichnet. Video, Dokument und Performance überschneiden einander, so dass die Grenzen zwischen Sein und Schein verschwimmen.
Ein Stück ist das nicht, aber rasantes Theater. Denn diese Staats-Streiche sind verrückt, witzig und am Ende sogar ein bisschen melancholisch. Aus Jena wirken in dem siebenköpfigen Ensemble mit: Saskia Taeger, Julian Hackenberg und Vera von Gunten. Was lernt man aus dem 70-minütigen Spiel? Wenn sie staatsbürgerlich parlieren, ihr Territorium verteidigen und um völkerrechtliche Anerkennung buhlen, sind sie außer sich. Bei sich sind sie, wenn sie miteinander musizieren: »This is my ...!« Nein, das Gemeinwesen mit Zukunft liegt nicht im Staat, sondern in der Hausmusik.
(Thüringische Landeszeitung; 30. April 2010/ Frank Quilitzsch)