Grossartige Spielverderber
"Far A Day Cage" erreichen das Thema von "CampLand" zum "transeuropa"-Auftakt
HILDESHEIM. Die Theatergruppe "Far A Day Cage" aus der Schweiz machte gemeinsam mit der Hildesheimer Band "The Verzerrer Schnitzel" in der Eishalle der Domäne Marienburg vorbildlich den Anfang mit der ersten transeuropäischen CampLand-Koproduktion. "Gang Bang! - Eine Betriebsanleitung für erfolgreiches Arbeiten im Kollektiv" hat sich, wie es "CampLand" vorsieht, mit "sozialen Topografien" befasst.
Konkret mit dem Pamphlet eines utopischen Sozialisten namens Charles Fourier (1772 bis 1837). Dessen Entwurf sieht mit dem Schaffen einer Grundrente für alle, dem Diktum der freien Liebe und einer Idee von Arbeitals Spiel und rotierenden Beschäftigungsverhältnissen ohne ein "Müssen" eine Neuordnung und Reorganisation der Gesellschaft zur Rettung der Welt vor. Das wiederum dient den Schweizern um Tomas Schweigen und Vera von Gunten als textliche Plattform, um sich an der Frage nach dem Platz des Utopischen in der Politik (und auf der Bühne) abzuarbeiten. Oder besser, um sich an der Vermittlung des Ideellen wund zu spielen.
In dieser theatralen Versuchsanordnung fallen die mit Perücken und Badelatschen gleichgeschalteten sechs Akteure wie Parasiten über den Text des französischen Autodidakten her und schaffen virtuos, locker, intelligent und vieldeutig ein hysterisch funkelndes Bühnenbild aus Worten mit einem Teppich aus Zitaten.
Im sichtbaren Hintergrund der Regisseur selbst, kenntlich gemacht durch den weissen Schal und mit Schlingensief-Charme. Das tatsächliche Bühnenbild wiederum, eine zu Anfang des Stückwerks offen montierte Zeltkonstruktion, dient als zerbrechliches Modell eines offenen Gefängnisses für flüchtige Schauspieler und überforderte Weltverbesserer.
Dazwischen greifen "The Verzerrer Schnitzel" im (linken) Hintergrund beherzt in die Gitarrensaiten und rocken das Kollektiv. Die Zeltwände sind Leinwände, auf denen mal live synchronisierte Fussgängerbefragungen aus Zürich und Hildesheim ablaufen oder angedeutete Sexszenen durchschimmern. Wer zusammen ist, wird durch Solofilme auf verschiedenen Projektionsflächen wieder getrennt.
Alles ist umstellt von Aussenblick und medialen Reflexen, die Utopie ist eine wackelige Angelegenheit. Und eine spannende Kulisse mit sturmanfälligen industriell gefertigten Aluminiumverstrebungen. Vor einem Stehmikrofon, das unmittelbar vorm Publikum postiert ist, kommen die Referenten zu Wort und schlagen sich und den Zuschauern pathetisch überfordert Unmögliches um die Ohren. Um dann wieder in durchsichtige Privatheitszonen abzutauchen.
Aus dem viel versprechenden, furiosen Anfang wird, wie bei Theorieüberhang so möglich, plötzlich eine vielsagende Langeweile, bei der man sich fragt, was einem hier eigentlich erzählt werden soll. Will man den Träumer aus dem 18. Jahrhundert feiern oder verraten? Ruft man hier den Zynismus des lethargischen Kapitalismus' aus, der besonders bei jungen Menschen im Angesicht von Idealen nur noch ein müdes Lächeln hervorrufen kann? Was ist so langweilig, das Stück oder die Botschaften?
Dann zieht irgendwann der Regisseur einen Hocker heran und macht den Raum auf für eine Diskussion: "Ich würd gerne noch über das Stück reden, ich bin der Regisseur. Ich möchte über politisches Theater reden, über eines, das ihre Einstellung verändert." Dieser schöne Schachzug macht das Stück nochmal auf für ein nun wirklich spannendes (politisches) Theater, bei dem alle Beteiligten in der toll gespielten "Das Stück ist vorbei"-Stimmung den Versuch unternehmen, "die Langeweile auszuspionieren" - was natürlich nicht langweilig ist. Leider ist das Stück dann bald vorbei. Aber das Glück, einer Schauspiel Gang bei der Arbeit, also beim Spielen zuzusehen, erhellt besonders in der letzten Viertelstunde unversehens rückwirkend auch die öde erinnerten Räume der klugen Performance. Und plötzlich erinnert man auch ganz unvoreingenommen und offen die ein oder andere Idee des ideellen "Schirmherrn" Fourier. Und die übrigens originellste Sexszene der Theatergescichte zwischen der fabelhaften Vera von Gunten und dem absolut das Spiel bereichernden Jesse Inman, der ein wirklich grosses, starkes Genital hat!
"Bringt uns Spielverderber!" heisst es im Manifest des Festivals. "Far A Day Cage" sind grossartige Spielverderber. Die beinahe gespenstisch sicher das Thema von "CampLand nicht" verfehlt haben.
(Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 30. Juni 2006/ ila)
Von der Liebe zur Zeit der Frühsozialisten
Die Gruppe "Far A Day Cage" eröffnet das Hildesheimer Theaterfestival "Transeuropa" mit dem Stück "Gang Bang - Eine Betriebsanleitung für erfolgreiches Arbeiten im Kollektiv"
Gang Bang in der Eishalle in Hildesheim. Wie in einer der Hinterhof-Fabrikklitschen sieht es hier aus. Ein fast leerer Raum, Metallstangen auf dem Boden und eine Band in der Ecke. Vier Männer und zwei Frauen kommen berucksackt herein und fangen mit der Musik von "The Verzerrer Schnitzel" an, ihr neues Zuhause aufzubauen. Sie haben Charles Fourier gelesen und wollen jetzt nach den Ideen des Frühsozialisten leben. Was sie da aus den Metallstangen basteln, ist das Modell des Phalansteriums. Das Phalansterium ist Fouriers Konzept eines verschachtelten Gebäudes, in dem im Idealfall 1.620 Menschen genossenschaftlich zusammenarbeiten sollten. Arbeiten und vor allem sich lieben.
Die Gruppe "Far A Day Cage" ist aus Zürich angereist und eröffnet das Programm des europäischen Theater- und Performancefestivals "Transeuropa" in Hildesheim. "Neue Kollektive" ist das diesjährige Thema.
"Gang Bang - Eine Betriebsanleitung für erfolgreiches Arbeiten im Kollektiv" heißt das Stück der Schweizer. Es ist ein experimenteller Abend: Eine Geschichte wird nur angedeutet, Situationen werden angespielt. Schnell verebbt eine Szene wieder, wird abgebrochen oder scheitert. Aber das ist Konzept. Es geht ihnen eben auch um die Darstellung des Prozesses.
Die Gruppe um den Regisseur Tomas Schweigen hat sich die Konzepte und Ideen des französischen Gesellschaftstheoretikers über das Leben und Arbeiten im Kollektiv vorgenommen. Dabei konzentrieren sie sich auf einen besonderen Aspekt: Für den 1772 geborenen Fourier war vor allem die freie Liebe, der Motor für eine funktionierende Gesellschaft. Das Ziel aller Bemühungen lautete: Harmonie.
Aber Philippe hat sich das anders vorgestellt. Als seine Tatjana von Jesse zurückkommt und erzählt, wie geil der Sex mit ihm war, versucht er angestrengt, seine Eifersucht zu unterdrücken. Kurz danach hält Jesse einen feurigen Vortrag aus einem Buch Fouriers. Die schüchterne Vera entdeckt, dass Jesse eine Erektion hat und reibt sich an ihm. Er redet aber stoisch weiter. Am Ende klemmt sich Vera über Jesse und schläft in wilden Zuckungen mit ihm. "Was it too tough for you", fragt sie den kleinen Engländer. Nein. Und plötzlich schauen sie sich ein bisschen verliebt an. Oder ist das nur das Lächeln nach dem Orgasmus?
Eine großartige Szene voller artistischem Humor und bitterer Erkenntnis. Wenn plötzlich die Liebe für Jeden und zu jeder Zeit verfügbar ist, verliert sie ihre Qualität. Sie ist dann gerade kein Motor mehr, sondern der Sand im Getriebe.
Tomas Schweigen, der auch auf der Bühne den Regisseur spielt, erzählt später, dass er bei der Auseinandersetzung mit Fourier verschiedene Phasen durchgemacht hat. "Zuerst war ich von den Ideen fasziniert. Dann kam der Moment, in dem man erkennt, wie furchtbar das eigentlich alles sein müsste." Genau diese Phasen macht auch der Zuschauer durch.
Die Arbeit von Far A Day Cage hat einen spielerischeren Dilettantismus. Alles ist bestmöglich getimt, Verknüpfungen zwischen Videoprojektionen und Schauspiel gekonnt inszeniert, aber alles ist immer etwas brüchig. Aber genau das ist gerade wieder die große Kunst, sich auch innerhalb des Produktionsprozesses immer am Rande, immer in der Nähe des Scheiterns zu bewegen. Gerade deswegen ist das Stück so leichtfüßig und niemals bemüht.
Zum fünften Mal veranstaltet der "Transeuropa e.V"., der von Studenten aus dem Fachbereich Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis der Universität Hildesheim 1994 gegründet wurde, dieses Festival. Der Auftakt ist ihnen mehr als geglückt. Far A Day Cage gelingt eine tolle Arbeit, die berührt. Die Gruppe beleuchtet eine komplexe Idee mit naivem Charme und entlarven Fouriers Konzepte mit einem Lächeln. Und einer kleinen Träne. Denn eigentlich stellt sie sich immer noch die Frage: Ist die Utopie nicht vielleicht doch möglich?
(taz, 30. Juni 2006/ Tim Meyer)
Künstlerfreiheiten. GANG BANG im Theaterhaus Gessnerallee
Zum Auftakt des Theaterherbsts in der «Gessnerallee» gehört die Bühne der jungen Zürcher Gruppe Far A Day Cage. Das Stück um Ideen des Gesellschaftstheoretikers Charles Fourier leistet sich die Freiheit, die Utopie von der vergnüglichen Arbeit und freien Liebe weder sehnsüchtig zu propagieren noch spöttisch preiszugeben.
«O weh», rief der Erste, «ach je», der Zweite, und der Dritte seufzte nur müde. Es fand sich also kein Begleiter für die Premiere von «Gang Bang» am Freitag. Der Erste hatte den Titel des Stücks, mit dem das Haus an der Gessnerallee nach der Tanz- nun auch die Theatersaison eröffnete, im Wörterbuch nachgeschlagen; der Zweite hatte ihn verschämt ergoogelt und war in den Netzen der Swingerklub-Sites hängengeblieben.
Reich der Freiheit und Harmonie
Schon alles gewusst hatte der Dritte, dem «Gruppensex» selbst auf Englisch höchstens ein Gähnen zu entlocken vermochte, zumal in Kombination mit der Ankündigung: Die junge Gruppe Far A Day Cage stelle sich die Aufgabe, das «aus heutiger Sicht überraschend modern wirkende» visionäre Vorhaben des französischen Sozialutopisten Charles Fourier (1772 bis 1837) theatralisch in die Tat umzusetzen. Fourier träumte von einem Reich der Freiheit und Harmonie. Seine phantasierten «Phalanstères» sind zwanglose Arbeitsgesellschaften (denn Arbeit ist Spiel) und freie Liebesgemeinschaften (denn die Triebe werden endlich, endlich nicht mehr unterdrückt). Modern? Willkommen bei den 68ern?
Zum Glück keineswegs. Die seit 2004 bestehende Zürcher Truppe um Regisseur Tomas Schweigen, die letztes Jahr für ihre Umsetzung von Schillers «Polizey»-Fragment den Schweizer Förderpreis Premio erhalten hat, tut sich nicht einfach den Zwang an, die Vision zu verwirklichen und es auf der Bühne zu treiben. Nicht einmal mit Worten. Vielmehr reden die sechs Akteure darüber und darüber, wie man darüber reden kann. Beim Erklimmen der Meta-Ebenen finden sie jeweils kurz vor dem Höhenschwindel zurück ins verspielte Spiel - was nicht zuletzt dem sinnlichen Sound der vierköpfigen Band namens The Verzerrer Schnitzel zu verdanken ist.
Befreiende Komik
Zunächst lassen sie andere reden. Interviews mit dem Mann und der Frau von der Strasse werden eingeblendet. Ob sie sich eine Verwirklichung der Freiheitsvision Fouriers vorstellen könnten? «In Teilbereichen schon», meinen die einen differenziert; andere schauen sehnsüchtig in die Ferne. Sehr ernst nehmen sie die Frage, und das hat auf dem Präsentiertablett der Grossleinwand einen komischen Effekt. Die Ernsthaftigkeit wird jedoch nicht ins Lächerliche gezogen. Ist «Gang Bang» weit entfernt von ungebrochener Propaganda für freies (Aus-)Leben, so liegt dem Stück simple Desillusionierung gleich fern.
Weniger Lehren denn offene Fragen nebst viel Unterhaltungswert sind auch aus den Szenen zu ziehen, die unglückliche Konsequenzen von Fouriers «System des Glücks» ausmalen. Zwar kennt man die mit zusammengebissenen Zähnen abgestrittene Eifersucht des aufgeschlossenen Freundes, den die Freundin nach dem Sex mit einem anderen durch Schilderung einschlägiger Details an ihrem Glück teilhaben lässt, aus der schwedischen Kommune-Komödie «Tillsammans». Doch die Wiedersehensfreude ist gross. Noch desaströser sind die logischen Folgerungen für das Verhältnis der Schauspielerin zum Regisseur. Ob all der freiheitlichen Ideen sieht sie plötzlich nicht mehr ein, warum sie bloss sein Sprachrohr sein und weiterhin untertänigst für die Utopie der Freiheit stehen sollte. Sie wird forsch und fordernd: «Wo ist mein leidenschaftlicher Monolog?»
Hier spricht der Regisseur
Im Zuge solcher selbstreflexiven Spielereien schaltet sich der Regisseur seinerseits mehrfach ein und entpuppt sich als arg verunsicherte Autorität. Seinen ursprünglichen Plan, den Zuschauern das Stück zu erklären, kann er nur noch im Konjunktiv der Utopie umsetzen: Nach einem Einblick in die Geschichte hätte er über «politisches Theater heute» gesprochen, das so Entscheidendes bewirke wie zum Beispiel, dass sich die Zuschauer zu Hause auf der Couch über ihre wahren Leidenschaften klar würden. Zum Schluss hätte er sein Los beklagt und über die unerträgliche Schwierigkeit geweint, ein utopisches Stück zu schreiben, welches nicht mit dem Scheitern endet und dabei auch noch den Kritikern gefällt. Letzteres ist ihm in diesem Fall gelungen, und zwar nicht, weil die Urteilsfähigkeit auf dem schwindelerregenden Reflexionskarussell abhanden gekommen wäre, sondern weil alles mit mehr als erträglicher Leichtigkeit geschieht.
(Neue Zürcher Zeitung, 2. Oktober 2006/ Christine Weder)