Inhalt
Was Theater kann
Far A Day Cage bringt die BEGAARS'S OPERA als Live-Kino auf die Bühne
Tomas Schweigens Grupper Far A Day Cage verwandelt im Basler Schauspielhaus John Gays "Beggar's Opera" in einem live eingespielten Kinoabend zwischen Film Noir und Ganovenstummfilm. Ein tolles Spektakel, wenn auch die politische Idee nicht recht passen will.
Heute bessere Sicht auf den billigen Plätzen! Der Spieß wird umgedreht, sind ja alles Gauner die da oben wie die hier unten. Revolution! Nur: "Wie kann man das heute machen?" Wer Tomas Schweigens Grupper Far A Day Cage in Basel schon gesehen hat, weiß, dass die Bühnenbildner vor Stückbeginn so gerne diskutieren wie sie später musizieren. Hat erlebt wie sich die Schauspieler gegenseitig synchronisieren. Dass sie sich mit Video auskennen. Aber nie so, wie an diesem Abend! Denn die "Beggar's Opera" ist ein live und ab dem zweiten Aufzug sichtbar unterhalb der Leinwand eingespieltes Kinospektakel zwischen Ganovenstummfilm, Slapstick und Film Noir. Auf der geteilten Videoleinwand fügen sich mit vielen Kniffen und sympathischen Holpereien die mit vier statischen Kameras gefilmten Szenen zusammen, und davor tobt auf engstem Raum ein Höchstleistungsspektakel, das zeigt, was mit Theater alles möglich ist. Auch ohne viel Geld. Damit aber nicht genug: John Gays "Beggar's Opera" von 1728 soll wie damals, als Brecht sie kapitalismuskritisch zur "Dreigroschenoper" hernahm, ein gültiges gesellschaftliches Statement hergeben. "Nicht umverteilen: teilen." Während draussen "die Regeln der Unterwelt die Wirtschaft regieren", zeigt Schweigen "eine kleine Gruppe von Optimisten und zwielichtigen Gestalten", die ihre Utopie bereits leben. Eine Revolution ohne die Verbissenheit der 68er. Das hat einen Haufen mit heute zu tun. Nur dass es eben eine Gaunerbande ist. Silvester von Hösslin spielt den Sippenchef Peachum, der mit Trenchcoat, Pornobrille und Philippe Graffs Stimme wirkt wie Jan-Josef Liefers' Professor Börne im Tatort. Schwer zu sagen, wer im Gegenspieler und wer Mitganove wird. Etwa Captain Macheath, Gauner und Frauenheld - Jesse Inman verleiht Graffs Figur einen schleimigen englischen Akzent, dem Töchterchen Polly verfällt. Die Peachums toben. Macheath landet im Knast, wo sich Lucy in ihn verguckt und er ihr alles verspricht, um wieder rauszukommen. Zwei an die Backen gepressten Stäbe reichen, um beide am Gitter schmachten zu lassen, auch wenn sie auf der Bühne fünf Meter entfernt stehen. Da befehden sich Mareike Sedl und Vera von Gunten, von den Kameras raffiniert mit Stofffüßchen auf Macheaths Schultern zu kleinen Püppchen zusammengeschnitten wie Engelchen und Teufelchen. Ein tolles Bild.
Diese aus mehreren Perspektiven zusammengefügte Action muss man so schnell, so locker und so witzig erst einmal hinkriegen. Und doch bekommt der rasante 75-Minüter zwischendrin einen Hänger. Und der hat nicht wenig mit der politischen Idee zu tun: Sie will nicht passen und verleiht der Nummernrevue keinen roten Faden.
Tomas Schweigen und seine Truppe nehmen Gays Ganovenballade als Blaupause für eine neue Ökonomie der Kooperation anstatt der Konkurrenz, in der das Teilen das neue Haben ist. Technisch ist das absolut schlüssig vorgeführt: Die Schauspieler leihen sich gegenseitig ihre Stimmen, sie stecken Schläge für einander ein und gönnen sich Streicheleinheiten. Und das hochkonzentriert und innerlich offenkundig quietschvergnügt.
Aber funktioniert das auch inhaltlich? Tatsächlich wird derzeit so viel über Alternativentwürfe geredet wie selten, von Urban Gardening über Car Sharing bis zum Grundeinkommen. In der "Beggar's Opera" leider nicht. Das Wort "teilen" kommt bei Gay nur einmal vor: wenn es um die Beute geht. Aus dem Gaunerhumor ("Wer zu geizig ist, dem muss man's nehmen") wird in Basel aber eine ernste utopische Behauptung. Klar, Peachum teilt sich manchen Penny mit Gefängniswärter Lockit und seine Ganoven mit dem Staat. Verpfeifen und kassieren. Auch Macheath wünscht sich, seine Frauen würden sich nicht aus Besitzdenken um ihn kabbeln. Aber bis vorgestern hiess so etwas noch Chauvinismus.
Nein, die Räuberkneipe ist nicht der Sherwood Forest, Peachum ist nicht Robin Hood. Klauen und verraten ist nicht teilen und kooperieren. Die Grundidee spielen lediglich die Schauspieler vor, und das grandios. "That could change the whole society!" - ruft Inman gegen Ende - und man sieht dem Briten den Spaß daran an, sich das selbst nicht ganz glauben zu müssen.
(Der Sonntag, René Zipperlen, 20.10.2013)
Eine Lo-Fi-Multimedia-Kino-Theater-Spielerei
Tomas Schweigens Installation von John Gays «The Beggar's Opera» für seine «Far a Day Cage»-Truppe ist inhaltlich irgendwo zwischen Lo-Fi-Kino, Multimedia-Experiment und Schauspiel-Farce anzusiedeln. Das ist formal bestechend, ganz erfrischend anzusehen, aber inhaltlich etwas gar belanglos.
Film als Multimedia-Theaterexperiment: «Far a Day Cage» zeigt mit John Gays «The Beggar's Opera» ein doppeltes Spiel
Ideen haben diese «Far a Day Cage»-Leute! Faszinierende Ideen, das muss man ihnen lassen. Und sie können etwas! Das Ganze ist formal absolut verblüffend, technisch brilliant umgesetzt und vom Ansatz her höchst originell und noch nie vorher so gesehen. Daran gibt es ganz und gar nichts zu rütteln. Das ist dann auch ganz vergnüglich anzuschauen. Bis zu einem gewissen Punkt zumindest. Bis man sich zu fragen beginnt, was einem dieses Theater eigentlich zu sagen hat.
Doch wir wollen zuerst mal versuchen nachzuerzählen, wie sich das Ganze präsentiert. Das ist gar nicht so einfach. Aber die Eingangserklärung der beiden Bühnenbildner (Stephan Weber und Demian Wohler), als Schwarzweiss-Film auf die grosse Kino-Leinwand gebannt, bietet schon einmal einen Ansatz hierfür. Apropos Kino: Das ganze Schaupielhaus trägt ein Kino-Kostüm: mit Stofftapetenbändern sowie 1950er-Leuchtern an den Wänden und der Decke.
Das geteilte Bild
Aber zurück zu den Bühnenbildern. Sie erzählen, dass sie sich nicht auf ein Bild einigen können und deshalb jeder sein eigenes kreiert. Nebeneinander. Aber weil es sich um einen Film handelt, zumal um einen, der nicht durch gestochene Tiefenschärfe brilliert, ist dieses geteilte Bild nicht als solches erkennbar. Das liegt letztlich daran, dass die beiden Filme so ineinander verwoben werden, dass sich das geteilte Bild zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügt.
Verstanden, wie das funktioniert? Haben wir im Zuschauerraum auch noch nicht so richtig, denn zuerst geht es mal nur als Schwarzweissfilm los. Zu sehen ist John Gays «The Beggar's Opera», eine arme Oper, die eine Halbweltszenerie zum Inhalt hat. Am besten nachzuvolziehen ist das, wenn man erklärt, das dieses Musiktheaterstück aus dem 18. Jahrhundert als Vorlage für die «Dreigroschenoper» von Brecht/Weill gedient hatte. Doch um Inhalt geht geht es an diesem Abend eigentlich weniger. Zumindest wird er, wird die Geschichte und ihre womögliche Ausage vom Formalen in den Hintergrund gedrängt.
DLo-Fi-Multimedia-Spielerei
Wir sehen nun also einen Schwarzweissfilm als eine Art Film-noir-Parodie. Natürlich merkt man ein bisschen, dass das Bild zusammengestzt ist. Auch dass die Schauspieler synchronisiert sind, erstens, weil bei einem der Männer (Jessie Inman) die Stimme doch ziemlich weiblich klingt und beim andern (Silvester von Hösslin) die Lippenbewegungen manchmal nicht ganz mit dem Gesprochenen übereinstimmen. Und vielleicht ahnt man auch bereits ein wenig, dass hier nicht einfach ein Film abgespielt wird, sondern dass dies alles live gespielt, aufgenommen und projiziert wird. Und dass auch die Filmmusik nicht von Band kommt.
Dem ist tatsächlich so. Denn nach einiger Zeit werden alle Schauspielerinnen und Schauspieler (neben den bereits erwähnten sind dies: Philippe Graff, Vera von Gunten und Mareike Sedl) aus der Unterbühne an die Oberfläche hochgefahren. Samt Hightech-Kameras und Lowe-Tech-Mobiliar. Und es beginnt eine zweite Phase, die man als «The Making of» bezeichnen könnte. Zu bestaunen ist, wie das scheinbar verzettelte Spiel von zwei parallel verlaufenden Live-Aufnahmen, wie sich die Live-Synchronisation von stumm die Lippen bewegenden Schauspielern, wie sich die Live-Musik und auf höchst originelle Weile erzeugte Geräusche auf der Leinwand darüber zu einem präzis abgestimmten Gesamtbild zusammenfügen.
Formal bestechend
Das bringt einen zum Staunen, und man denkt: «Wow, dass dies funktioniert». Die spielerische Präzision (oder Präzision im Spiel), der Ideenreichtum, die Originalität sind faszinierend. Das ist so einnehmend, dass das, was eigentlich inhaltlich gespielt wird, so ziemlich verloren geht. Irgendwie geht es um Gangstertum, um Verrat, Bestechung und Kopfgeldgeschäfte, soviel sieht man (Kostüme: Anne Buffetrille), bekommt man natürlich mit. Um «The Beggar's Opera» eben. Wenn man nun aber einen Blick ins Programheft wirft, dann scheint es Regisseur Tomas Schweigen um noch viel mehr gegangen zu sein. «Sieht man noch genauer hin, dann erkennt man in diesem nun beinahe 300 Jahre alten Stoff durchaus auch Fragestellungen und Überschriften, die man mühelos aktuellen Debatten um Sharing-Strategien, Umverteilung, Grundeinkommen voranstellen könnte.»
Das haben wir nicht wirklich erkannt. Vielleicht liegt es an der spektakulären Oberfläche, dass uns dieses genauere Hinblicken hinter die Fassade der Form verwehrt blieb. Eine Dreiviertelstunde schauen wir dem verblüffend konstruierten und amüsanten Treiben ganz gerne zu. Doch irgendwann hat man das Prinzip verstanden, und man beginnt sich mit der Frage auseinander zu setzen, was uns dieses Theater inhaltlich zu erzählen hat – eine Frage, die unbeantwortet bleibt. Einem grösseren Teil des Publikums scheint dies indes nicht allzu sehr gestört zu haben. Der Applaus nach fünf Viertelstunden Spiel war herzlich.
(Tageswoche, Dominique Spirgi, 18.10.2013)
Multimediale Bettleroper
In Basels Version von „The Beggars Opera“ von John Gay werden die verschiedensten Medien laufend und auf höchst amüsante Art gewechselt.
"Ganz grosses Kino“ könnte man diese ungewöhnliche Basler Einrichtung des inzwischen fast dreihundertjährigen Stückes nennen, wären da nicht auch die Schauspielerinnen (Vera von Gunten und Mareike Sedl) und Schauspieler (Philippe Graff, Jesse Inman, Stephan Weber und Demian Wohler) live agierend auf der Szene.
Versteckte Hommage
Und diese Szene besteht aus einer riesigen Kinoleinwand (Raum: Stephan Weber), welche die Zuschauer schon beim Eintreten durch Werbe-Lichtbilder befremdet, welche in ihrer altmodischen Aesthetik an die einfachen „Glückliche Welt“-Inserate der Fünfziger- und Sechzigerjahre erinnern. Erst beim näherem Hinsehen kann man bemerken, dass als Adresse der jeweiligen „Firma“ immer jene des Theaters Basel selber angegeben ist – eine versteckte Hommage an die Theatermitarbeiter im Hintergrund also, u.a. an Schreinerei, Malersaal, Schneiderei und Fundus.
Sehr demokratisch weist so die für die Aufführung verantwortliche Gruppe FADC auf ihre Grundidee von Partizipation und Umverteilung hin. Denn, wie Regisseur Tomas Schweigen im Programmheft erklärt, „stellt das Stück Moral und Besitzdenken in Frage, damit unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit, Arbeit, Erfolg, Integrität, Liebe, Freiheit. Vom Leben eben.“
Far a day cage
Die 11köpfige Zürcher Kompanie FADC (Far a day cage) um den Regisseur Tomas Schweigen wurde 2004 gegründet, um sich im Spannungsfeld von Performance, Dokumentar- und Erzähltheater frei bewegen zu können. Die Gruppe ist seit August 2012 group in residence am Theater Basel. Sie hat sich der projektbezogenen, aesthetisch eigenwilligen und meist höchst vergnüglichen Erarbeitung von gesellschaftsrelevanten Theaterstücken verschrieben und ist dabei international schon sehr erfolgreich. „FADC ist kritisch, aber auch selbstkritisch, ironisch und lacht oft über sich selber.“ Wahrhaftig: Ich kann mich kaum erinnern, an einem (Stadt-)Theaterabend so klug, witzig und phantasiereich amüsiert worden zu sein!
Wirbel von szenischen Einfällen
Die Londoner Vorlage John Gay’s von 1727/28 allein gibt ja schon allerhand her. Was vor nunmehr schon beinahe 100 Jahren auch Bertold Brecht und Kurt Weill erkannt hatten, als sie aus „The Beggars Opera“ ihr Erfolgsstück „Die Dreigroschenoper“ bauten. Im 18. Jahrhundert schuf Gay mit seinem Stück den neuen Typus einer „Ballad Opera“, eines Sprechtheaterstücks, das von Moritaten und Balladen durchsetzt ist. Das von Hans Magnus Enzensberger ins Deutsche übersetzte Original bildete auch in Basel für FADC die Grundlage, aber in einem immer wieder überraschenden Wirbel von szenischen Einfällen. Das fängt schon eingangs an bei der Erklärung von der Leinwand herunter (in Schwarzweiss natürlich!), dass das Ensemble sich überlegt habe, dem Stück nur cineastisch gerecht werden zu können, indem man auf zwei Leinwänden gleichzeitig produziere.
Nur so komme man dem angestrebten Teilungsgedanken näher. Und dieses Sharing durchzieht als roter Faden die gesamte Inszenierung. Das geht so weit, dass nach ungefähr 10 Minuten (grade, als man sich seufzend damit abgefunden hat, an diesem Abend nur Kino vorgesetzt zu bekommen) die echt auftretenden Protagonisten sich sogar gegenseitig die Stimme teilen. Das Ganze wird live von mehreren Kameras gefilmt und – für alle sichtbar – auf offener Bühne auf die Grossleinwand montiert, was zu manchmal grotesken, filmtricktechnisch jedoch durchaus aufschlussreichen Bildern und Situationen führt. In Basels Version von „The Beggars Opera“ von John Gay werden die verschiedensten Medien laufend und auf höchst amüsante Art gewechselt.
Teilen und Umverteilung
An diesem Abend wird der Ausspruch Brechts „Die Diebe stehlen und die Huren huren“ ad absurdum geführt – denn wer ist hier was? Sogar die vom Ensemble gemeinsam getragenen Musiknummern teilen das gleiche Prinzip. Fast durchgängig über dem Brecht/Weill’schen Thema des Morgenchorals von Bettlerkönigs Peachum „Wach auf, du verrotteter Christ...“, entwickeln sich die Songs und die zum Teil mit konkreten Klangerzeugern besetzten, einfallsreichen Zwischenspiele von Martin Gantenbein, der auch die musikalische Leitung innehat. Er wird dabei unterstützt von Sound Designer Jacob Suske. Der Schlusschoral „Ich gebe dir und du gibst mir“ leitete nach frenetischem Applaus über auf Überraschungen im Theaterfoyer.
Hier wurden die Besucher aufgefordert, ihr Programmheft, falls sie es nicht mehr brauchen sollten, für andere Besucher in einen Kasten zu werfen. Und in einer Art Leihbibliothek lagen all jene Bücher auf, in die sich das Ensemble bei Erarbeitung dieses klugen Abends vertieft hatte, und die sich grosso modo um Sharing-Strategien, Umverteilung und Grundeinkommen drehen. Bei solch heute aktuellen Ideen müssten Peachum und seine Bande nicht mehr Strassenräuber an die Behörde verraten, um von deren Kopfgeld leben zu können.
(journal21.ch, Laura Weidacher, 19.10.2013)
Im Kreisel der Illusionen
Tomas Schweigen und sein Ensemble Far A Day Cage inszenieren John Gays "Beggar’s Opera" in Basel als Multimediaspektakel.
Der durch die Gänge hastende Verkäufer mit der Eisbox, der hektisch seine Süßware anpreist, der geschwungene Deckenleuchter und die im Hintergrund der Bühne in altbackenen Standbildern aufleuchtende Reklame örtlicher Handwerker und Dienstleister lassen, schon während sich der Saal im Schauspielhaus füllt, Kinoatmosphäre aufkommen. Tomas Schweigen und Far A Day Cage machen im Theater Basel Kino, wo einst Oper war – ein bisschen zumindest. Als Folie für das Multimedia-Experiment nutzen der Regisseur und sein am Theater angedocktes Ensemble John Gays "Beggar’s Opera" – einen Klassiker, den unter anderem Bertolt Brecht als Steinbruch für seine "Dreigroschenoper" ausgeweidet hat. Statt Brecht'schem Lehrtheater mit Tiefgang aber bieten Schweigen & Co effektvolles auf Unterhaltung getrimmtes Hybridtheater, das zwischen Cartoon, Slapstick und Farce wandelt, darüber aber auch seltsame Leerstellen erzeugt.
Handlung und Figuren orientieren sich an der klassischen Vorlage vom Anfang des 18. Jahrhunderts und deren Halbwelt: Da sind Mr. und Mrs. Peachum, die mit mafiösen Machenschaften reich geworden sind, im Geschäft keine Skrupel kennen, sich aber gleichwohl ganz bürgerlich um die Zukunft ihrer Tochter Polly und die Legalisierung der Beute ihrer kriminellen Umtriebe sorgen; da ist der dienstbare Helfershelfer Filch, der Gangster, Frauenverführer und Lebenskünstler Macheath, der korrupte Gefängniswärter Lockit und dessen mit Polly um Macheath rivalisierende Tochter Lucy. Die Inhalte dieser Kleinen-Leute-Oper, die diffusen Grenzen zwischen Mafiösem und Moral, die Affinität zwischen denen da oben und denen da unten, die Geschichte um die Verhältnisse, die, um es mit Brecht zu sagen, nicht so sind, wie sie scheinen, aber interessieren die Inszenierung allenfalls im Rande.
Zwar spielen auch Schweigen und sein Team virtuos mit dem Schein und mit Illusionen; doch dieses Spiel bleibt in erster Linie eines der formalen Experimente. Gleich zu Beginn reflektieren zwei Bühnenbilder in Form eingespielter Videoprojektionen (Demian Wohler) und mit geteiltem, aber geschickt vernähtem Bild in kollegialer Rivalität über die Oper und das angemessene Bühnenbild für diesen Stoff. Sie landen schließlich bei der Erkenntnis, dass inzwischen eigentlich der Film das Massenmedium der kleinen Leute, der beggars ist, um die es geht. Wohlan! In Schwarzweiß und im Stil eines Film Noir der 40er oder 50er-Jahre nimmt die Gesichte Tempo auf.
Doch die Stimmen der Akteure sind seltsam verfremdet und irgendwann wälzen Mr. und Mrs. Peachum auf einer Autofahrt in der Fahrerkabine fiese Strategien, wie sie ihrer Tochter und damit ihr eigenes Scherflein am Besten vor anderen Kriminellen sichern. Spätestens da dämmert, dass hier nicht einfach ein Film abläuft, sondern dass live gespielt und parallel projiziert wird, ja dass auch die Filmmusik keine Konserve ist.
Kaum, dass sich die Täuschung enttarnt, tauchen aus dem Bühnenuntergrund reale Schauspieler, Schauspielerinnen und Musiker auf mitsamt technischem Equipment wie Videokameras und steigern diese Gratwanderungen zwischen Sein und Schein in neue Dimensionen. Entlang der bekannten Handlung, der Jagd auf Macheath, des Zickenkriegs zwischen Polly und Lucy, der Allianz des Verbrechens zwischen Lockit und Peachum, aber im Wording modernisiert und mit Sprüchen des Heute angereichert ("Ein Küsschen in Ehren kann niemand verwehren") vermischen sich Spiel- und Projektionsebenen, entstehen parallele Geschichten – wenden sich zwei, die auf der Bühne mit dem Rücken zueinanderstehen, in der Projektion das Gesicht zu, reichen zwei Metallstangen, ein Gefängnis zu simulieren.
Das ist verblüffend, unterhaltsam, auch witzig und komisch; letztlich verwischt dieses Spektakel um Reales und Projiziertes aber alle Positionen. Zwar irrlichtern auch mal sozialkritische Thesen à la "besser teilen als umverteilen" durch das bunte Tralala. Doch, ob das reale Forderung ist oder ironische Projektion, bleibt in diesem rund 75-minütigen Alles-ist-möglich-Spiel so diffus wie das skurrile Happyend.
(Badische Zeitung, Michael Baas, 19.10.2012)
Gefühle verderben das Geschäft
Far A Day Cage verfilmen John Gays "Bettleroper" im Schauspielhaus Basel
Früher, im Vorstadtkino: Von der Leinwand grüsst das lokale Handwerk mit quietschfidelen Werbeanzeigen. Ein Glace-Verkäufer drückt sich mit seinem Kühltruhenbauch an die Seitenwand. Gleich dunkelt der Saal ein, gleich beginnt der Film.
Ein Film? Tatsächlich. Die Gruppe Far A Day Cage um Regisseur Tomas Schweigen hat "The Beggar's Opera" von John Gay als Drehbuch und das Schauspielhaus als Kino verstanden. Was gar nicht so abwegig ist, schliesslich hat Gay, eine Zeitgenosse und Gesitesbruder von Jonathan Swift, seine sozialsatirische Ballad-Opera 1728 mit voller Absicht in "die Lumpen der Armut" gekleidet. Und die Oper fürs einfache Volk, das kann man mit Far A Day Cage so sehen, findet heute durchaus im Kino ihren Platz.
Natürlich wird nicht einfach ein Film abgespielt. Far A Day Cage, in der zweiten Saison als Artists in Residence am Theater Basel Aktiv, wären sich untereu, würden sie kein Making-of in die Produktion einbeziehen und keine Illusionen brechen, ganz im Sinne Brechts. Der wiederum ist als Pate einer Pettleroperniszenierung der richtige Mann, er hat Gays Story ja selbst als Vorlage benutzt, für die "Dreigroschenoper".
Verspielt bis an den Galgen
Im Vorspiel treten Stephan Weber (Bühnenbild) und Demian Wohler (Video) vor die Kamera. Sie zeigen das Spielprinzip, das vorderhand auf einem geteilten Leinwandbild und schummeriger Schwarz-Weiss-Ästhetik basiert. Wir sehen den Erzganoven Peachum (Silvester von Hösslin, der Diebesgut von Kleinkriminellen vercheckt und jeden an den Galgen verrät, der unzuverlässig arbeitet. Mrs Peachum (Vera von Gunten) steckt ihrem Gatten, dass ihre Tochter Polli (Mareike Sedl) ihr Herz an den Bandenboss und Rotlichcasanova Macheath (Philippe Graff) verloren und ihn womöglich heimlich geheiratet hat. Peachum wittert Gefahr: Naive Gefühle verderben das Geschäft.
Der erste Akt ist noch nicht alt, da fährt die Vorbühne hoch und schiebt ein Low-Budget-Filmstudio vor die Kinobilder. Papprequisiten, Geräuschemacher, Live-Musik, Digitaltechnik, alles das. Alles bedient und verkörpert von den Performern. Von nun an wohnt das Publikum zeitleich dem Film und seiner dramatischen Entstehungsweise bei. Keine Figur spricht mit eigener Stimme, jeder Darsteller synochronisiert einen anderen, so entsteht ein V-Effekt: Wort und Körper haben einander verlassen. Das ist zunächst ein logistisches Kabinettstück. Flott durchchoreografiert, sehr vergnüglich. Man erlebt Far A Day Cage auf der Höhe ihrer Verspieltheit.
Was vor lauter Experimentierlust mit der Erzählform auf der Strecke bleibt, ist die Geschichte und ihre Relevanz. Gay hat ein korruptes System angeprangert, an dem das Volk auf der Strasse mitverdient oder untergeht. Das Ensemble ist mit dem Timing auf dem Set ausgelastet. Dass die Regie den Figuren soziale Fragen und Sharing-Strategien in die Köpfe gepflanzt haben will, geht in der Premiere unter. Es gibt Liebesschmalz und Body-Doubles, lustige Prügeleien, eine Dreiecksaffäre und ein aufgepfropftes Happy End mit utopischer Ballade. So kann Feelgood-Kino sein. Theater könnte auch anders.
(BAZ, Stephan Reuter, 19.10.2013)
Bettler-Oper in Zelluloid
Stoffverkleidung an den Wänden, dazwischen einarmige Lichter im Stil der Sechzigerjahre, über den Köpfen ein merkwürdig verschlungener Neon-Leuchter – für Thomas Schweigens Inszenierung «The Beggar’s Opera» am Theater Basel hat der Bühnenbildner Stephan Weber das Schauspielhaus in ein altes Kino verwandelt. Stilecht geht denn auch vor der Vorstellung Jesse Inman, der Brite im Basler Ensemble, mit vorgeschnallter Kühlbox durch den Saal und verteilt Ice-Cream. Inman gehört zu Schweigens Gruppe «Far a Day Cage», die der Intendant Georges Delnon letztes Jahr an sein Haus geholt hat. Und «The Beggar’s Opera» ist eine Produktion in bester «Far A Day»-Tradition: ein lustvolles Spiel, bei dem die Ebenen so häufig gewechselt werden wie die Kostüme.
Bissige barocke Vorlage
Die Vorlage dazu wurde 1728 in London uraufgeführt. «The Beggar’s Opera» (die Vorlage zu Brechts «Dreigroschenoper») war einerseits eine bissige politische Satire, andererseits eine Parodie auf die modische italienische Oper. Sie spielt unter Bettlern, Huren und Kriminellen, denen im Kampf ums Überleben und in der Gier nach Geld kein Verbrechen zu schmutzig ist. Ihr Verhalten spiegelt aber nur jenes der korrupten Oberschicht, das macht der Text von John Gay deutlich.
Kino als Oper des Volks
Es läge natürlich nahe, das Stück ins Heute zu verlegen – in die Schweiz der UBS-Skandale und der Hildebrand-Affäre. Schweigen geht einen anderen Weg. Er betrachtet die «Bettleroper» als «Oper für Bettler», als niederschwelliges Volkstheater. Das ist ein Missverständnis, aber ein fruchtbares. Denn der Regisseur findet im Kino das heutige Pendant zum Volkstheater und inszeniert das Stück zunächst als Schwarz-Weiss-Film, in dem das Spiel von Licht und Schatten dramatische Akzente setzt.
Happy-End statt Galgen
Er beginnt mit einem Casting, bei dem sich die Spieler vorstellen, die alle mehrere Rollen übernehmen. Sylvester von Hösslin gibt unter anderem den Hehler Peachum. Vera von Gunten ist seine Frau, Mareike Sedl seine Tochter Polly, die heimlich den Räuberhauptmann Macheath (Philippe Graff) geheiratet hat. Doch dieser ist ein notorischer Frauenheld, der unter anderem auch mit der Tochter des korrupten Polizisten Lockit (Inman) liiert ist. Peachum und Lockit, langjährige Partner in illegalen Geschäften, gelingt es, den gefährlichen Schwiegersohn an den Galgen zu bringen. Zumindest fast: Aus Rücksicht auf das Publikum erhält das Stück in letzter Minute ein Happy-End.
Geteilte Stimmen
Nach den ersten Film-Szenen werden aus der Versenkung die realen Darsteller hoch gefahren und nun erleben wir parallel zum Film das Making-of. Schweigen hat als utopische Gegenwelt zum realen Eigennutz eine Kommune erfunden, die das viel diskutierte Prinzip, eine «Ökonomie des Teilens», auf die Spitze treibt. Selbst die Stimmen gehören allen: Die Spieler synchronisieren sich gegenseitig. Inman etwa hat als Taschendieb Filch die Stimme von Mareike Sedl, Graff als Macheath spricht mit Inmans englischem Akzent. Natürlich wird hier auch gesungen – man ist schliesslich in der Oper. Die Originalmusik von William Pepusch allerdings klingt kaum noch an. Das Ensemble hat eigene Songs geschrieben und brilliert sängerisch und auf einer ganzen Reihe von Instrumenten.
Geteilte Leinwand
Demian Wohler hat ein Video-System entwickelt, das getrennt aufgenommene Szenen auf der vertikal geteilten Leinwand zusammenfügt. So entsteht aus Aktionen an den beiden Enden der Bühne im Film die Illusion einer wüsten Schlägerei zwischen Peachum und Lockit, bis plötzlich beide gegen ihr jeweiliges Double zu kämpfen scheinen. Später greifen die Figuren auf der Leinwand direkt ins Bühnengeschehen ein. Wenn Macheath schliesslich in ein Kino flieht, verwirren sich die Ebenen endgültig, denn das Kino ist jenes, in dem wir Zuschauer sitzen. Mitten im Publikum sieht er sich seinen eigenen Film an, bis Lockit und Peachum ihn im Saal festnehmen. Das ist aber nicht die letzte überraschende Volte dieses geistreichen, vergnüglichen, virtuos gespielten Abends, der nach rund fünf Viertelstunden auch zu Ende ist, bevor sich die Ideen abnützen.
(Theaterkritik.ch, Alfred Ziltener)
The Beggar‘s Opera mit kesser Videotechnik in Basel
Brechts Dreigroschenoper ist im deutschen Sprachraum bekannter, aber John Gay‘s <
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Neues Ganzes dank Split Screen
Zunächst spielt sich die Geschichte über eine Gangsterfamilie in simpler Schwarz-Weiss-Ästhetik auf einer grossen Leinwand ab. Und man fragt sich: Hat Theatermann Schweigen tatsächlich mit seiner Truppe einen Film gedreht? Und zieht er das einen Abend lang durch - oder kommt da noch was anderes? Nach etwa 15 Minuten wird auch dieses Geheimnis gelüftet: Aus einer Bodenversenkung werden die Schauspieler auf die Bühne gehoben: Jetzt wird klar, wie dieser Film live entsteht. Die Leinwand ist geteilt, ein sogenannter Split Screen; hier werden von zwei Kameras gleichzeitig aufgenommene Szenen zu einem Ganzen zusammengefügt - Szenen, die an entgegengesetzten Seiten der Bühne stattfinden (Video: Demian Wohler, Bühne: Stephan Weber). Mit dieser Ausgangslage schafft die Truppe ständig neue, überraschende, immer wahnwitzigere Effekte. Zwei Paare, die tanzen, werden auf Film zu einem neu zusammengefügten Paar. Zwei, die sich auf der Leinwand brutal verprügeln, stehen auf der Bühne mehrere Meter weit auseinander und boxen gegen Schatten. Der Gangster im Gefängnis hält eigentlich nur zwei Eisenstäbe vor die Kamera.
Die Videokameras verwandeln die einfachen Zaubertricks der Bühne also auf der Leinwand zu einer neuen, realistischeren Illusion. Nichts ist, wie es scheint. Nicht einmal die Stimmen gehören zu denen, die gerade sprechen: vielmehr bewegt der jeweilige Schauspieler im Bild die Lippen und wird synchron von einem anderen auf der Bühne vertont. Durch die Gangstertochter spricht die Mutter, durch den Schwiegersohn der Schwiegervater.
Als Zuschauer weiss man kaum, wo zuerst hinblicken, auf eine der vielen Bühnenaktionen oder auf die Leinwand oder auf die anderen Zuschauer, die alsbald auch Teil dieses Films werden. Das alles macht Spass und ist mit viel Geschick, Fantasie und Charme gemacht sowie gekonnt mit eigenen Musik- und Gesangsstücken angereichert.
Doch bei so viel Aktionismus geht notgedrungen die eigentliche Geschichte unter. Ebenso wenig bleibt Raum für die Schauspieler, ihre Charaktere zu entfalten. Vor allem und wie so oft bei Far a Day Cage fehlt dem Abend jeglicher Tiefgang. Die Mittel sind der Zweck - und nicht, wie man sich wünschen könnte, Mittel zu einem bestimmten Zweck. Doch um die Zuschauer wirklich zu berühren bräuchte ein Stück mehr als raffinierte Technik, es bräuchte Substanz. Dieses Puzzle darf bei einer guten Theatercollage nicht fehlen.
(Basellandschaftliche Zeitung, Susanne Petrin, 19. Oktober 2013)