Ein schräges, nostalgisches Vergnügen


"Vaudeville" auf dem Theaterplatz - eine übermütige Hommage an Schmiere und Varieté

"Magie Drama Poesie Spektakel - Grosse, brillante Vorstellung", verspricht die Inschrift im Giebel der kleinen Schaubude, die das Theater Basel zwischen Tinguely-Brunnen und Grosser Bühne installiert hat. Auf der Theatertreppe stehen Holzbänke für das Publikum bereit; vor der Serra-Plastik wird Bier ausgeschenkt. "Vaudeville" heisst die vom Regisseur Tomas Schweigen geleitete Produktion, die - Open Air und bei jedem Wetter - gezeigt wird.
Es ist eine vergnügliche Hommage an das Unterhaltungstheater des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an die Schausteller und Wandertheater, an das Variété und dessen amerikanische Form, das Vaudeville. Es ist auch eine Hommage des Theaters an die einstige Konkurrenz: Nicht nur in Basel zog das Publikum die Jahrmarkt-Unterhaltung den Kunstanstrengungen im Stadttheater vor; nicht nur in Basel wurde daher immer wieder ein Verbot solcher Veranstaltungen gefordert.
Regisseur Schweigen hat vier Regiekollegen um einen Beitrag zu diesem Abend gebeten: Nina Mattenklotz, Markus Heinzelmann und Jan-Christoph Gockel sind neu am Haus; Missimo Rocchi hat in dieser Saison mit feinem Witz Joseph Haydns Oper "Lo Speziale" inszeniert. Schweigen selbst hat die so entstandenen Szenen zu einem organischen Ganzen verschmolzen. Wer welche Episode geschaffen hat, spielt kaum mehr eine Rolle.


Witzige Bühne, grosse Show
Zu Beginn der Vorstellung kurbeln zwei Akteure die Wand zum Publikum herunter und geben so den Blick frei auf eine winzige Bühne, die mit farbigen Vorhängen gegliedert werden kann. Silvester von Hösslin - ein ausgezeichneter Sprecher - stellt als Direktor die Mitglieder der Truppe vor, für die Anne Buffetrille leicht schräge, nostalgische Kostüme entworfen hat. Jesse Inman etwa macht eine gute Figur als stärkster Mann der Welt im blauen Turner-Trikot und mit gezwirbeltem Schnurrbart. Philippe Graff gibt einen Magier von diskreter Eleganz und Johannes Schäfer im Motorradfahrer-Kostüm der 40er-Jahre kurvt als Karl der kühne Kaskadeur (eine Anspielung auf "Karls kühne Gassenschau") über den Platz. Dazu kommen Consuela, die Tänzerin mit dem schwarzen Vollbart (Vera von Gunten) , und Adele, die Frau ohne Seele (Mareike Sedl). Über allem schwebt Madame Josephine, die eigentliche Prinzipalin; Chantal le Moign verleiht ihr die Grandezza einer Rummelplatz-Diva.
Was folgt, ist eine übermütige, überraschungsreiche Szenenfolge - Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung wechseln in rascher Folge ab. Da werden lebende Bilder gestellt und Märchen-Motive bunt übereinander collagiert und die Pyramus und Thisbe-Szenen aus Shakespeares "Sommernachtstraum", das Urbild jeder Schmiere, munter verhackstückt. Der Direktor tritt zurück und schliesslich als sein eigener Nachfolger wieder an - ein Wink an Georges Delnon?
Madame Josephine misst, wie neuerdings am Theater Winterthur, mit einem Applausometer den Beifall des Publikums. Doch das Resultat ist ungenügend und darum müssen spektakuläre Attraktionen her: Der Magier ruft nach einem Erdbeben; der Kaskadeur fährt durch einen brennenden Reif und stürzt sich schliesslich vom Dach der Kunsthalle. Inzwischen aber haben Beamte das Theater abtransportiert, weil der Truppe die Bewilligung fehlt. Tut nichts: Am Schluss stehen Tanz und Gesang.
Während der Show trägt das Publikum Kopfhörer. Hin und wieder wird Musik eingespielt und zudem begleiten Schweigen und Gabriel Vetter, Hausautor des Theaters, das Geschehen in der Art von Fernseh-Kommentatoren, aber erfreulich zurückhaltender.
Anfang Saison hat Georges Delnon Tomas Schweigen zum Co-Leiter des Schauspiels gemacht und seine Freie Gruppe "Far A Day Cage" ans Theater Basel geholt. "Vaudeville" ist das bisher überzeugendste Resultat dieser Verbindung: Ein richtiges "Far A Day Cage"-Stück mit der Infrastruktur des Theaters.

(Basellandschaftliche Zeitung, Alfred Ziltener, 06. Mai 2013)


Das Theater in der Mausefalle



Würde es halten? Schwarze Wolkenbänke hatten sich zum Vorstellungsbeginn über dem Theaterplatz geschichtet. Magie! Drama! Poesie! Spektakel! versprach die Aufschrift an der heruntergekommenen Schaubude. Die farbenfroh kostümierte und bunt geschminkte Vaudeville-Truppe wuselte bereits eifrig herum, zelebrierte billige Zaubertricks, sang Chansons, verstolperte sich in falsche Auftritte. Da fielen vereinzelte Tropfen. Die letzte Premiere der Saison: bedroht?
Vier hausfremde Regisseure hatte Schauspielchef Tomas Schweigen um eine 15-minütige Vaudeville-Szene gebeten mit der Fragestellung "Was bedeutet für Euch Stadt-Theater?" Und alle vier inszenierten Eskalationen, Katastrophen, Zusammenbrüche.

Beim ersten Regisseur, Massimo Rocchi, läuft der Direktor der Truppe (Silvester von Hösslin) beim Probenstreit davon, bei Nina Mattenklotz trampeln zwei Herren in die Szene, fragen nach der "Bewilligung" und ziehen der Truppe schließlich den Stromstecker aus. Eklat auch bei Nummer drei, bei Markus Heinzelmann: Affektiert sprengt eine Mutter aus dem Publikum die Vorstellung. Ihr Junge weint, weil der "Löwe" aus Shakespeares "Sommernachtstraum" eine Hundepuppe "frisst". Und überhaupt platzen immer wieder allerlei "Passanten" in die Szenen. Zu guter Letzt (Regie: Jan-Christoph Gockel) räumen Bühnenarbeiter die ganze Schaubude vom Platz. Wie es aussieht, ist das Stadttheater also von vielen Seiten bedroht.

Das Publikum ist immer schuld

Über den Hang der Regie-Viererbande zu Katastrophe und Rahmensprengen ließe sich lange diskutieren, wo hier doch das Selbstverständnis der Macher im subventioniert-gesicherten Stadt-Theater befragt wurde. Und dazu skurrile Schaubuden-Szenen im Stil des 19. Jahrhunderts mit dem "stärksten Mann der Welt", der "bärtigen Frau" etcetera vorgegeben waren.

Jan-Christoph Gockel gibt in seiner Viertelstunde dem Publikum die Schuld daran. Es reagiere nicht, selbst wenn "Karl, der kühne Kaskardeur" (Johannes Schäfer) auf dem Mofa durch den brennenden Reifen fährt, wenn die "Frau ohne Seele" (Mareike Sedl) mit Feuerfackeln jongliert, wenn der "starke Mann" (Jesse Inman) Feuer speit. Den Befund spuckt jedenfalls ein riesiger, antiquierter Kasten, der "Applausometer", auf langem Papier aus. Für die Premiere kann man sagen, der Kasten log: Denn das Publikum lachte und applaudierte nach jedem Gag dankbar.

Die Werkstatt des Inszenierens

Aber die Truppe heult und zappelt. Dann müsse man halt live einen Affen verbrennen oder Feuer regnen lassen, so lässt Gockel den Zauberer "Magic Marcello" (Philippe Graff) delirieren. "Mehr Brutalität" fordert auch die Chanteuse "Madame Josephine" (Chantal Le Moign). Und der Kaskardeur springt gar vom nahegelegenen Kunsthalle-Dach. "Wir müssen uns auf das Niveau des Publikums begeben", weiß die bärtige Frau (Vera von Gunten) – und rutscht in Knieschuhen in die Szene.
Markus Heinzelmann richtet den Blick mehr nach innen – in die Werkstatt des Inszenierens – und schildert das Bühnenspiel als hilflosen Akt. Mit vielen Seitenhieben gegen die Formation "Mummenschanz" gibt die Truppe inbrünstig, aber holperig Shakespeares Laienaufführung vor dem König im "Sommernachtstraum". Dazu wird Heiner Müllers Abrechnung mit dem Schauspiel, das Gedicht "Theatertod" rezitiert. Schmierentheater hat auch keine Berührungsängste mit Mozarts Requiem ("Dies irae"): für die Schaubudenleute der geeignete Background um ungestalte "Tableaux vivants" zu präsentieren.
Nina Mattenklotz mixt und verkeilt Märchen wie Rotkäppchen, Dornröschen und die Geschichten von Münchhausen ineinander, bis das Ensemble in Streit über den Text gerät. Und Massimo Rocchis Eklat-Szene beginnt damit, dass der eine erst ab 17 Uhr proben will, die "Frau ohne Seele" ausruft, sie könne keine Frau ohne Seele spielen, und wieder andere die Hauptrolle oder mehr Gage fordern.

Vereint im Tanz

Aber hintergründig feuern sie mit naiv getöntem underacting Pointen ab, die den Witz der Darbietungen verschärfen. Übertragen via Kopfhörer, bestens abgemischt.
Das Finale des quirlig-pfiffigen Abends bildet eine grosse Tanzchoreographie der Truppe mit Passanten auf dem nun leeren Platz. Die Macher und das Publikum vereint im Tanz: Ein Bild der Hoffnung für das Theater? Die Wolken zumindest haben gehalten. Der Abend sein Versprechen auch: die bislang spannendste Vorstellung von FADC als group in residence am Theater Basel.

(Online Reports, Claude Bühler, 3.5.2013)

Theater Basel im Freien


Ein spätwinterlicher Sommernachtstraum

Das Basler Schauspiel präsentiert sich in der letzten Premiere der laufenden Spieltzeit auf dem Theaterplatz als lustige Gaukler-Truppe. Nichts weniger, aber auch nicht mehr.

Für das Wetter kann man das Theater nun wirklich nicht zur Verantwortung ziehen. Ganz sicher hatten sich die Verantwortlichen was anderes vorgestellt, als sie zum Saisonende (nun, es dauert ja noch ein paar Wochen, bis Schluss ist) eine Open-Air-Veranstaltung auf den Spielplan setzten. Einen lauen Frühlingsabend vielleicht? Aber das Wetter war, wie es halt im Moment oft ist: deprimierend, zu grau, zu kühl und zu nass.
Irgendwie hatten die meterologischen Verhältnisse auch etwas dramatisch Spannungsvolles für eine Freilichtveranstaltung: Kommt der Regen, der sich durch den dunkelgrauen Himmel ankündigt – und gegen den man sich mit den verteilten Regenpellerinen nur marginal hätte schützen können? Halten die Funkkopfhörer das Nass aus, wenn es denn runterprasselt? Wie will man Notizen machen auf Papier, das eingeweicht ist? Nun, der Regen kam nicht. Ziemlich pünktlich auf Vorstellungsbeginn (21 Uhr) hin kam eine Niederschlagspause. Das mal die erste positive Nachricht zur Premiere von «Vaudeville! Open Air».
Spiellustiges Ensemble
Die zweite ist, dass man sich einem Ensemble respektive einer Truppe – es handelt sich ja vornehmlich um die eingebetteten Mitglieder von Far A Day Cage, die zusammen mit dem künstlerischen Leiter (und Co-Schauspielchef) Tomas Schweigen den Abend zusammengestellt und umgesetzt haben – gegenübersieht, die trotz des regennassen Bodens und den dunklen Wolken am Himmel eine erfreuliche und teilweise ansteckende Spiellust ausstrahlt.
Sie präsentiert sich mit weiss geschminkten Gesichtern und grellen Kostümen (Anne Buffetrille) als Gauklertruppe aus vergangenen Tagen: Da ist Le Directeur (Silvester von Hösslin) in Frack und Zylinder, der die Fäden mehr oder weniger zusammenhält, auch wenn er sich hin und wieder beleidigt davonschleicht. Und da ist die skurrile Truppe mit dem Shakespeare zitierenden Stärksten Mann der Welt (Jesse Inman) im typischen Ringer-Outfit, mit der Frau ohne Seele im stofflosen Reifrock, die nicht weiss, wie frau sich ohne Seele geben soll (Mareike Sedl), mit der bärtigen Tänzerin Consuela (Vera von Gunten), dem Magier Marcello (Philippe Graff), der zwar nicht zaubern, aber die Zeit anhalten kann; mit Karl, dem kühnen Kaskadeur (Johannes Schäfer), der als Rapper ein um einiges besseres Bild abgibt als in seinen artistischen Stuntszenen; und da ist auch Madame Josephine (Chantal Le Moign), die als Chansonnière eigentlich als einzige wirklich beherrscht, was sie in ihrer Funktion beherrschen muss, nämlich das Singen.
Verloren auf dem Platz
Diese Truppe ist ganz und gar auf ironisierte Nostalgie angelegt. Ebenso die Schaubude (Bühne: Stephan Weber und Demian Wohler), die auf den Theaterplatz gefahren wurde. Nur leider – und jetzt kommen wir zu den weniger erfreulichen Nachrichten – wissen die Gaukler nicht wirklich, was sie mit sich und vor allem mit uns Zuschauerinnen und Zuschauern anfangen sollen. Vier Regisseure (Jan-Christoph Gockel, Massimo Rocchi, Nina Mattenklotz und Markus Heinzelmann) haben sich mit ihnen beschäftigt und Szenerien zusammengestellt, die keinen inhaltlichen Bezug zueinander haben. Die auch keine wirklich nachvollziehbaren Inhalte zu vermitteln vermögen, ausser, dass die skurrile Menagerie halt eben skurril ist.
Da hilft es auch nicht wirklich, wenn mit den Audiokommentaren von Tomas Schweigen und Gabriel Vetter eine Art Metaebene eingeschaltet wird. Die beiden Kommentatoren füttern das Publikum wie bei einer Live-Übertragung eines gesellschaftlichen Grossanlasses mit zum Teil originellen Hintergrundinformationen zu den Urzeiten des Basler Stadttheaters, das sich in seinen Anfangszeiten eben noch gegen solche beliebte Vaudeville-Truppen behaupten musste. Einen inhaltlichen Spannungsbogen lässt sich damit aber auch nicht bewerkstelligen.
So plätschert der Abend vor sich hin, etwas seicht und ganz und gar harlmos. Es gibt witzige und ein paar überraschende Regieeinfälle zu erleben, die Kostüme sind schön, die Schaubude, die zum Schluss weggefahren wird, eigentlich reizend. Es gibt ein paar nette Musik- und Gesangseinlagen und sogar ein bisschen Shakespeare: die parodisierte Liebesgeschichte von Pyramus und Thisbe aus «Ein Sommernachtstraum».
Als Showeinlage bei einem Theaterfest wäre dies ganz passend, als abendfüllendes Spielzeitprojekt hat «Vaudeville! Open Air» letztlich aber gar wenig Fleisch am Knochen. Das Spannendste an diesem Abend blieb die Ungewissheit, ob der grosse Regen nun kommt oder ob man die anderhalb Stunden trockenen Hauptes auf den Stufen der grossen Freitreppe auf dem Theaterplatz sitzend hinter sich bringen kann.

(Tageswoche, Dominique Spirgi, 4.5.2013)

«Ich war wild entschlossen ein Publikum zu sein, wie ich es mir selber wünsche»


Erika Stucki im Interview mit Susanne Petrin über Vaudeville

Erika Stucky, was haben Sie für einen Bezug zur Zirkuswelt?
Erika Stucky: Ich habe vor allem einen Bezug zur Strassenmusik-Welt. Mit 18 bin ich mit Steppschuhen und einem Alto-Saxofon nach Paris gefahren. Damit hab ich mir ein paar Batzen verdient in der Metro und auch auf der Strasse, mit einer Brasilianerin, die dazu klatschte. Ich kenne diese Situation: Leute kommen vorbei, du beziehst sie ein; eine Frau mit Stöckelschuhen, du nimmst den Rhythmus auf. Ich hatte sofort einen Draht zu dieser Show. Ich kenne die Situation: Sich draussen schminken, glänzige Gwändli anziehen; die Leute schauen dich an und schütteln den Kopf – oder nicht. Zirkus kenne ich vom Zirkus Federlos: Ich habe Mitte der 80er-Jahre mit den Sophisticrats eine Township-Tour durch Afrika gemacht. Ein ambitioniertes Projekt. Die in den Townships haben nicht gerade auf uns gewartet.

Und heute, als Sängerin auf der Bühne, ist das so anders als damals auf der Strasse oder im Zirkus?
Die Anfänge als Strassenmusikerin haben mir extrem geholfen, wild zu bleiben und offen zu bleiben – für Huster, und was auch immer im Publikum passiert. Auf der Strasse ist es oft kalt um den Hals, und es ist viel anstrengender, die Leute akustisch zu erreichen. Auf der Zugfahrt nach Basel dachte ich: Die armen Schauspieler werden so herumschreien müssen. Ich war zuerst neidisch, als ich sah: Aha, die haben ja Mikrofone, die Zuschauer Kopfhörer. So kanns ja jeder! Aber nur ganz kurz. Dann dachte ich: Super für euch! Und für uns. Man hat sie ganz nah, die können ganz fein reden und singen. Das war eine tolle Überraschung. Diese Ausrüstung hätte ich in den 80er-Jahren auch gern gehabt!

Sie waren von Anfang an fest entschlossen, das Stück gut zu finden, sich zu amüsieren. Hat das geklappt?
Ja, das fiel mir sehr leicht, weil es mir so gefallen hat. Ich musste mich nicht verbiegen. Die Leute zahlen und kommen, um sich bezaubern zu lassen, um vom Alltag abzuheben. Ich wünsche mir bei meinen eigenen Konzerten, dass die mit einer Pulle Cognac in der Tasche kommen und sich sagen: So, jetzt fliege ich mit. Ich war wild entschlossen ein Publikum zu sein, wie ich es mir selber wünsche. (Erika Stucky kam in einen Schlafsack-Mantel gehüllt und hatte tatsächlich auch zwei kleine Cognac-Fläschchen zum Aufwärmen von innen dabei.)

Was hat Ihnen so gut gefallen?
Ich hatte ein bisschen befürchtet, dass da Schauspieler mit schönem Bühnendeutsch ein wenig auf Zirkus machen werden. Danach spielen sie wieder Medea oder Gretchen. Als ich hinkam, habe ich schon beim Warm-up gemerkt: Nein, die sind so: Ein Grüppchen, das sich schon kennt, eine Bande – nicht aus diversen Schauspielhäusern zusammengekaufte Leute. Es hat mich nie einer genervt, ich dachte nie: Oh, Achtung Männlein, mach du gescheiter Brecht! Darüber hab ich mich gefreut. Beim Strassentheater ist es wie beim Jazz: Man kann sich nicht schnell mal dieses Gwändli überziehen, das ist auch eine Lebenseinstellung.

Haben Sie auch etwas vermisst?
Es gibt immer etwas, das mehr nach eigenem Gutdünken gestaltet sein könnte. Doch wenn es Längen gab, haben die beiden Sprecher kommentiert: «Ja, es hat Längen.» Dann bist Du platt, dann kannst Du innerlich den Schreiber gleich wieder fallen lassen. Ich habe mir aber zu Hause notiert, was mir besonders gefallen hat (nimmt ein Blatt hervor): Ganz am Anfang wurden The Beau Hunks eingespielt: ein niederländisches Ensemble, das alte Stummfilm-Musik neu aufnimmt, ein warmer schöner Orchestersound. Dann dachte ich: Yeah, der George! (Erika Stucky war Mitte der 90er-Jahre mit George Gruntz auf Tournee und hat auch später mit ihm zusammengearbeitet.) Dann akustischer Bass, Pauke, Glockenspiel – da wusste ich sofort, das ist Martin Gantenbein (Bühnenmusik-Autor und musikalischer Leiter). Zur Einstimmung aufs Stück hatte ich den Film «Who’s Afraid of Virginia Woolf» geschaut. Danach ging ich pfeifend heim: «Who’s Afraid of Vaudeville.»

Die NZZ war weniger gnädig, der Kritiker schreibt Vaudeville sei «mehr schwaches Imitat als gekonnte Parodie oder Überhöhung von dem, was Strassentheater schon vor Jahrzehnten wesentlich virtuoser präsentierten.»
Das sagt mir nichts. Ausser: Jö, da fühlt sich einer wieder verdammt gut beim Schreiben. Sicher gibts noch die viel Wilderen. Man kann immer alle gruseln, huch und schlechte Träume. Man kann immer noch verreckter tun. Max Frisch sagte mal: Er schäme sich heute über seine eigenen Kritiken von gestern, über den Ton, «eine Mischung von Dreistheit und Herablassung». Ich habe gerade eine Sendung über Jazz gehört. Bei denen, die über sich selbst erzählen, seis auch über ihren Hund, bleibe ich hängen. Wenn jemand findet: Ja, die Konstruktion und tätätä – da geht mein Geist weiter.

Sie bekommen fast nur gute Kritiken. Trotzdem haben Sie erwähnt, dass Sie sich von den wenigsten verstanden fühlen. Was begreifen die Kritiker nicht?
Nicht nur die Kritiker, die Menschen allgemein. Wenn ein Zuschauer sagt, du hast mir ganz aus der Seele gesprochen, denke ich: Das bist ja du, nur du, ich halte ja nur einen Spiegel vor, bin eine Projektionsfläche. Wenn du so viel Liebe empfindest bei einem Gig, dann bist das du. Wenn du so viel Hass empfindest, dann bist das leider auch du. Man kann nur sehen, was man in dem Moment erkennen kann. Die Verantwortung für Reaktionen muss ich zu einem grossen Teil abgeben, auch als Selbstschutz.
Die Kritiker versuchen, ein Konzert oder Stück zu interpretieren.
(...)
Zurück zu Vaudeville: Der künstlerische Leiter des Abends hat vier Regisseure damit beauftragt, je einen Teil zu inszenieren. Er gab allen die Frage mit: Was ist für euch Stadttheater?
Das hab ich zum Glück nicht gewusst, das hätte mich abgeschreckt. Wer das will, hat es wahrscheinlich herausgefunden.

Jedes Teilstück endet in einer Katastrophe: Der Direktor geht, Behörden schliessen das Theater, und gegen Ende lesen die Schauspieler aus dem Buch «Kulturinfarkt» und sagen verzweifelt: «Die Hälfte, von allem die Hälfte». Beschäftigen Sie die Probleme des Theaters?
Den Kulturinfarkt hab ich als Zwischengang mitgegessen, aber die Hälfte wieder zurückgeschickt. Ich bin momentan nicht auf diese Sachen fixiert, es würde mich nur bremsen. Ich bin gerade in meinem Cocon und arbeite an «Black Widow», meinem nächsten Programm. Das sind eigentlich auch Zirkuslieder, so Rumpelkisten-Songs. Ich arbeite mit drei Musikern von Tom Waits. Vaudeville-Figuren wie die Lowlife-Prinzessinnen und Grossstadt-Cowboys findet man auch bei Tom Waits.

Was hat Sie emotional am meisten angesprochen?
Die Taucherglocke! Schauspieler Jesse Inman, der in einer mit Wasser gefüllten Taucherglocke «You Always Hurt the One You Love» singt. Leider wurde es unterbrochen vom Mann, der vom Dach springt. Besonders war auch der Moment, in dem Schauspielerin Vera von Gunten sich diese grosse, schöne Dornröschen-Larve anzieht und dazu die Hände ganz fein bewegt. So etwas inspiriert mich für eigene Videos. Als sie schlief, hielt sie ihren schweren Kopf in den Händen. Da hätte ich weinen können. Auch diese Flashmob-Geschichten gefallen mir. Wenn Passanten auf der Strasse überraschend etwas inszenieren, das ist so wunderbar wirklichkeitsverschiebend. Gefallen haben mir auch die echten Zufälle. Ein älterer Herr lief mit diesem Wägeli vorbei. Du schaust dieses Glitzertheater und nebendran geht einer Heim, und du findest: danke, dass du das Bild auch noch gefüllt hast.

Kurz vor Ihrer Lieblingsszene mit der Taucherglocke fällt das Goethe-Zitat: «Und setzt du nicht dein Leben ein, so wird auch nichts gewonnen sein.» Würden Sie für die Kunst ihr Leben einsetzen?
Ich spare nicht. Man gibt schon das Letzte. Aber was heisst das schon? Es war noch nie jemand mit der Knarre da. Ich denke jetzt an einige Bücher und Filme, zum Beispiel über Menschen im Konzentrationslager. Was Menschen in Extremsituationen bleibt, ist schon der Humor und die Musik.
("Im Theater mit..." BZ, 30.5.2013)

Basler Theater spielt "Vaudeville! Open Air"


Das allgegenwärtige Theater zieht zum Abschluss der Schauspielsaison ins Freie.
Theater lebt vom Wagnis und davon, die eigene Rolle immer wieder neu zu definieren. Eben erst gebaute Mauern werden gerne wieder ein- und gerade verschlossene Türen aufgerissen. Mit "Vaudeville! Open Air" verlegte das Theater Basel jetzt auch seine letzte Schauspielpremiere in dieser Spielzeit nach draußen vor den Tinguely-Brunnen, was doppelt auf Risiko gespielt war, vom Wetter gar nicht zu reden. Was kam, war ein weitschweifender, grell geschminkter Rückblick, das Theater an sich betreffend, die verletzlichen Seelen seiner Schauspieler, die schwer ergründbaren von Kritik und Publikum, nicht zu vergessen die spezielle Geschichte des Hauses in Basel.


Das allgegenwärtige Theater zieht zum Abschluss der Schauspielsaison ins Freie.
Theater lebt vom Wagnis und davon, die eigene Rolle immer wieder neu zu definieren. Eben erst gebaute Mauern werden gerne wieder ein- und gerade verschlossene Türen aufgerissen. Mit "Vaudeville! Open Air" verlegte das Theater Basel jetzt auch seine letzte Schauspielpremiere in dieser Spielzeit nach draußen vor den Tinguely-Brunnen, was doppelt auf Risiko gespielt war, vom Wetter gar nicht zu reden. Was kam, war ein weitschweifender, grell geschminkter Rückblick, das Theater an sich betreffend, die verletzlichen Seelen seiner Schauspieler, die schwer ergründbaren von Kritik und Publikum, nicht zu vergessen die spezielle Geschichte des Hauses in Basel.

Tomas Schweigen hatte als künstlerischer Leiter des Abends seine Far A Day Cage-Truppe dazu in eine schrille Schaustellertruppe aus theatraler Vorzeit verwandelt. Schließlich hat FADC, als Haustruppe für zwei Spielzeiten engagiert, auch Hamlet schon rückwärts gespielt, weshalb dann nicht einmal eine etwas andere Theatergeschichte von ganz hinten nach ganz vorne geblickt? Auf klappriger Wanderbühne tummeln sich entsprechen die irrwitzigsten Gestalten von der Frau ohne Seele, der Mareike Sedl den stechenden Blick verlieh, über die bärtige Tänzerin (Vera von Gunten) bis zum stärksten Mann der Welt, auch der ewige Engländer genannt, der nur eine einzige Sprache spricht. Jesse Inman hatte da eine Paraderolle, in der er das Volk auch in schönstem sommernachtsträumerischen Shakespeare-Englisch betören durfte. Gefehlt hätte jetzt eigentlich nur noch ein Auftritt des zweiten ewigen Engländers am Basler Theater, von Ballettdirektor Richard Wherlock.
Das Vaudeville als historisch parodierendes Jahrmarktsspiel hatte indes auch ohne den Tänzer noch weitere Kaninchen im Hut. Zwischen den Publikumsrängen, zu denen die große Theatertreppe umdeklariert wurde, und vor der abenteuerlichen Bühne tauchen ein ums andere Mal neben einer Vielzahl echter Passanten beteiligt Unbeteiligte auf, sodass es immer neu zu verifizieren gilt, was denn zum Spiel gehört und was nicht. Via Kopfhörer, mit denen das Publikum ausgestattet ist, mischen sich als Nebengespräch und Livekommentar Tomas Schweigen und der Poetry-Slammer und aktueller Hausautor am Basler Theater, Gabriel Vetter, in die Szenerie.

Verblüfft wie Sportkommentatoren

Sie geben allerdings nicht die Allwissenden, sondern lassen sich, wie die Sportkommentatoren von jeder Torchance selbst verblüffen, liefern aber gleichzeitig die Geschichte des Basler Theaters seit seiner ersten Eröffnung 1834 mit und das inklusive aller Finanz- und Subventionsdebatten, die bekanntlich fortdauern. Selbst den Namen des designierten neuen Intendanten hätten wir fast erfahren, wäre da nicht ein Knistern, eine störende Regieanweisung dazwischen gekommen.

Und auf der Bühne? Herrlich dilettantisch agierende Schausteller und ein langsam verzweifelnder Impresario (Silvester von Hösslin) spielen nebenbei das erste von vier Bildern, für die nach der Reihe Massimo Rocchi, Nina Mattenklotz, Markus Heinzelmann und Jan-Christoph Gockel verantwortlich zeichnen. Als einziges nicht FADC- aber Ensemblemitglied hält Chantal le Moign dem alten Theater taftrauschend die Stange. Im zweiten Bild mischt sie sich in ein wildes Märchenmedley, bei dem niemand mehr weiß, was eigentlich der Wolf vom Frosch wollte und was das Schaf von der Prinzessin. Es darf mitgelacht und – gedacht werden.

Auch Romeo und Julia alias Pyramus und Thisbe inklusive theatralischstem ins Schwertfallen haben ihren Auftritt, bis es im letzten Bild um die alles entscheidende Seinsfrage der Menschen und also aller Schaustellenden geht, den "Applauskoeffizienten". Diesmal fällt er im Spiel vernichtend, in der Realität aber eindeutig besser aus. Und weil auf den Rängen am Ende niemand mehr sagen kann, ob er oder sie sich nicht gerade selbst zum Clown macht für die promenierende Stadt – wer sieht sich denn solch einen Unsinn an? – ist Theater am Ende überall. Das kennt man ja.

(Badische Zeitung, Annette Mahro, 05.05.2013)