Phantastische Zeitreise zurück ins Jahr 2012


Die Zürcher Gruppe Far A Day Cage zeigt «Urwald»

«Urwald» heisst der neuste, äusserst raffinierte Streich von Far A Day Cage. In der am Samstag vor der Gessnerallee uraufgeführten Performance lässt sich unser Alltagsleben aus der Aussenperspektive erleben.
Wer am vergangenen Samstag kurz nach 21 Uhr die Gessnerallee entlangspazierte – und das taten an diesem lauen Frühsommerabend nicht wenige –, erlebte auf der Höhe des Theaterhauses eine eigenartige Situation: Er (oder sie) sah rund dreissig Personen auf zwei langen Bänken vor einer Art Holzbaracke sitzen. Alle trugen Kopfhörer und beobachteten die Vorbeigehenden lachend. Den einen Passanten war dies unangenehm, die anderen genossen die Aufmerksamkeit sichtlich.

Wilde Gesellen
Nicht schlecht staunte auch jenes Pärchen, dem aus dem Lift des City-Parkings eine weisse Fellgestalt samt Elchgeweih entgegentrat. Überhaupt tummelten sich je länger, je mehr derart wilde Gesellen auf dem Vorplatz des Holzhäuschens. Was dies alles zu bedeuten habe, mögen sich die Leute gefragt haben. Die Antwort ist einfach: Sie waren unvermutet Teil der Performance «Urwald» geworden.
Deren Entstehungsgeschichte ist genauso spektakulär wie das Resultat. Die Zürcher Gruppe Far A Day Cage (FADC) um den Regisseur Tomas Schweigen zog sich für ihr neues Projekt in eine Berghütte im Schwyzer Muotatal zurück, ganz in der Nähe des Bödmerenwalds, des grössten Fichtenurwalds Westeuropas. Weil selbst im Mai noch viel Schnee lag, gelang es FADC allerdings nur ein einziges Mal, zum Urwald vorzudringen. Dafür erlebte die Truppe aus Zürich, die – neben Essensvorräten, warmen Kleidern und einem Überlebensratgeber – diverse Sagenbücher aus der Region mitgebracht hatte, rund um die Hütte extreme Zustände.
Ihr Blick auf das Alltagsleben veränderte sich. So erschien den Theaterleuten vieles «im Tal unten» auf einmal in einem anderen, absurden Licht. Fast kam es ihnen so vor, als blickten sie aus einer späteren Zeit zurück auf unsere Gegenwart; die Idee für die Performance war geboren. – An der Theaterkasse wird das Publikum in zwei Gruppen eingeteilt. Zuschauer mit den blauen Armbändchen begeben sich zu Beginn ins Holzhäuschen hinein, während die orange Bebändelten auf besagten Bänken im Freien Platz nehmen und sich die Kopfhörer aufsetzen. Zuerst erklingen daraus einzelne Klaviertöne, die einen seltsamen Kontrast bilden zu den nicht ganz überdeckten Aussengeräuschen.
Plötzlich stellt sich ein wandelnder Tannenbaum vors Mikrofon und sagt: «Herzlich willkommen zu einer Reise durch die Zeit!» In einer völlig neuartigen Simulation gebe es eine durchschnittliche Stadt Anfang des 21. Jahrhunderts, also vor rund 700 Jahren, zu erleben. Damals hätten sogenannte Spätmenschen die Erde besiedelt. Es habe allerdings nicht mehr lange gedauert, bis diese Spezies durch den sogenannten Big Change vernichtet worden sei. Was man heute über die Zeit vor dieser nicht näher definierten Katastrophe wisse, basiere ausschliesslich auf archäologischen Funden.
Und so nimmt man denn als Zuschauerin die gewohnte Umgebung tatsächlich mit einem komplett neuen Blick wahr, und das ist umwerfend komisch! Die (bald deutschen, bald englischen) Kommentare, die vom Tonfall her an die Safety-Instructions im Flugzeug erinnern, sind zunächst allgemein gehalten – «This is a typical street scene from the year 2012» – und werden mit der Zeit immer spezifischer.

Die Vierrädler
So erfährt man etwa Folgendes über das beliebteste Fortbewegungsmittel der Spätmenschen, die Vierrädler: «Sie hatten fast alle vier bis fünf Plätze, und trotzdem sass meist nur eine einzige Person darin. Für jedes Neugeborene produzierten die Spätmenschen ein Fahrzeug.» Vieles bleibt den Kommentatoren ein Rätsel. Wieso wohl gab es auf der einen Erdhalbkugel Esswaren im Überfluss und auf der anderen nicht genug? «To this day there's no reasonable explanation to this contradiction.» Genauso wenig deuten können die Produzenten der Simulation das plötzliche Auftauchen der furchterregenden Fellgesellen, genannt Transformer. Was genau es mit diesen auf sich hat, erfahren die Zuschauer mit den orangen Bändchen im zweiten Teil der Performance im (stickig heissen) Innern des Holzhauses, auf dessen Fensterscheiben sich Schnee- und andere Szenen projizieren lassen. Es hätten sich einmal fünf Menschen in eine Hütte in der Nähe des Bödmerenwalds zurückgezogen, erklären die Schauspieler Philippe Graff, Vera von Guten, Silvester von Hösslin, Jesse Inman und Mareike Sedl – und sie seien dort spurlos verschwunden.
Die beengende Situation in der Hütte, die, unterstützt von Sagengeschichten und reichlich Schnaps, zu allerlei (Horror-)Phantasien anregt, lässt sich eins zu eins nachempfinden. Und so wundert es denn keineswegs, wenn eine der Schauspielerinnen plötzlich Tierfüsse hat. Ganz zum Schluss, wenn die Transformation vollendet ist, singen die fünf felligen Gestalten ein liebliches Volkslied: ein Bild, so unvergesslich wie die ganze Performance.
(NZZ, ANNE SUTER, 4.6.2012)


Far A Day Cage führt uns in den Urwald



Zürich, Gessnerallee - Eigentlich wars nicht im Theaterhaus, sondern davor: draussen, mit Blick auf Trams und Autos - auf diese Simulation des Jahres 2012, die von pelzigen Geschöpfen im Jahr 2712 als eine Art Jurassic Park entwickelt wurde. "Urwald" heisst das Ganze, und man darf sich aussuchen, ob der Urwald das Zürich von 2012 ist oder der 7000-jährige Bödmerenwald im Muotathal, wo die haarigen Monster herkommen und "Big Change" seinen Anfang nahm: Jener gorsse Wandel, den die fünf Theaterjongleure von Faradaycage um den Regisseur Tomas Schweigen nach einer Expedition ins Waldungetüm choreografiert haben.
Von dort haben sie einen Blick von aussen mitgebracht - etwa auf die Irren "Vierrädler", in denen stets nur eine Person sitzt; überhaupt auf unsere verquerte Welt. Da werden einen einen fett, die anderen verhungern; da verbrauchen wir Ressourcen, als seinen sie so leicht zu reproduzieren wie das Plastikzeug, das im Meer schwimmt. Hübsch humoresk wird das Versagen der Spiezies Mensch unter die Lupe genommen; Leitmotiv ist dabei der Satz "wir verstehen es nicht".
Wir verstehen es dagegen recht gut: Mit der Botschaft hält Faradaycage nicht hinterm Bergwald. Dafür gibts nette Pointen, schöne Videobilder und eine Schauergeschichte, stimmig in einer Blockhütte erzählt, garniert mit Plato, Schwyzer Sagenmaterial udn Chörli-Sound. Schweigen, ab Sommer Co-Leiter der Sparte Schauspiel in Basel, zeigt, was er kann: Selbstreflexion, Gesellschaftskritik, Dokumentartheater mit Interaktion, Erzähltheater mit Spannung, und das alles als harmlose Posse. Gelacht haben wir viel; geweint leider nicht.

(Alexandra Kedves, TAZ 6.6.2012)



Blick zurück auf die merkwürdige Gegenwart


Die Theatergruppe Far A Day Cage gewährt am Theaterfestival Basel mit «Urwald» einen aufschlussreichen Blick aus der fernen Zuklunft auf unsere merkwürdige Gegenwart.

Wenn man sich für einige Wochen in die verschneite Abgeschiedenheit des Muotataler Urwalds zurückzieht, erhält man offensichtlich einen neuen Blick auf die städtische Gegenwart: Man sieht Wasser, abgepackt in «Plustik», das gegen buntes Papier eingetauscht wird. Man sieht sich «Bicyclern» und Vierradboxen gegenüber, letztere zwar mit fünf Plätzen ausgestattet, meist aber nur mit einer Person besetzt. Wenn man als Zuschauer oder Zuschauerin in diese Welt geführt wird, beobachtet man mit ironischer Distanz das «Fortpflanzungspech» der Menschen – der inszwischen ausgestorbenen «Spätmenschen», denn der Blick auf die städtische Gegenwart ist nur eine Simulation, die von unseren Nachkommen aus ferner Zukunft erschaffen wurde. Und man entdeckt wild aussehende Gestalten, «Transformer» genannt: ein pelziges Zottelwesen mit Hirschgeweih, ein voluminöses Biest mit klitzekleinem Hasenkopf, ein wandelnder Tannenbaum oder ein kleingewachses Monsterchen mit einem enormen fangzahnbesetzten Maul. Und man sieht, aufgereiht vor einer Hütte vor der Klingentalturnhalle bei der Kaserne, die normalen Passanten, die aus dieser Perspektive betrachtet allzu normal nicht wirken.
«Urwald» heisst der jüngste Streich der Zürcher Theatertruppe Far A Day Cage rund um Tomas Schweigen – eine der interessantesten Positionen in der freien Theaterszene der Schweiz. Es ist zugleich ihr vorerst letzter Auftritt in der freien Theaterwildbahn, denn die Theaterleute lassen sich als Group in Residence ins Theater Basel einverleiben – mit Tomas Schweigen als Co-Direktor des Schauspiels. Das mag wohl auch ein Grund dafür gewesen sein, dass sich Far A Day Cage noch einmal einen wahrhaftig freien Auftritt gegönnt hat: frei von jeglichen Theaterkonventionen und Vorlagen aus der Theaterliteratur.

Auf Abenteuerreise
Herausgekommen ist eine Art Erfahrungsbericht bzw. eine angereicherte Dokumentation einer abenteuerlichen Reise, auf die sich die Theaterleute tatsächlich begeben hatten. Die Reise hatte in eine einsame Berghütte im verschneiten Schwyzer Muotatal geführt. Im Gepäck mit dabei hatte die Reisegruppe neben warmen Kleidern, Schneeschuhen und viel Schnaps eine Auswahl von Sagenbüchern und das Werk «Survival total», das in der Wildnis natürlich nicht fehlen darf. Diese Hütte haben die Theaterleute nun nachgebaut und auf das Kasernenareal gestellt. An der Festivalkasse wird das Publikum in zwei Gruppen aufgeteilt. Die mit dem grünen Kärtchen nehmen zuerst im oben beschriebenen Aussenbereich Platz, die mit den roten werden in die Hütte geführt.
In dieser Hütte ist zu erleben, was passiert, wenn in der Abgeschiedenheit, angereichert durch regen Schnapskonsum und die Lektüre von Sagenbüchern, Realität und Fiktion zu verschwimmen beginnen. Aus dem anfänglichen Hüttenkoller erwachsen langsam Ängste vor nicht definierbaren Geräuschen, die von draussen in die Hütte dringen. Zuerst ist ein Klopfen an der Tür, dann gibt der Stromgenerator den Geist auf und das Licht geht aus. Panik greift um sich, die Hütteninsassen ergreifen die Flucht und – so die einleitende Erklärung zu Beginn – verschwinden für immer. Das realistische Spiel der fünf Schauspielerinnen und Schauspieler lehnt sich ganz offensichtliche an die bekannte filmische Dokufiktion «Blair Witch Project» an. Nur dass in diesem Fall die unheimlichen Wesen aus der unheimlichen Umgebung – es handelt sich um die oben beschriebenen Gestalten – am Schluss tatsächlich auftauchen – und wir erfahren, dass diese zwar gruselig aussehen, in ihrem wirklichen Wesen aber sehr putzig und lieb sind. Das zeigt sich spätestens dann, wenn sie wundervoll mehrstimmig das liebliche Jodelchörli «Mis liebschte Huus schtoht ganz ellei» anstimmen.

Blick zurück aus der fernen Zukunft
Im zweiten bzw. anderen Teil des Abends begegnet man den Figuren aus der Hütte wieder. Dieses mal nicht mehr als definierte Individuen, sondern als Prototypen der Spätmenschen in einer Simulation des Stadtlebens aus dem Jahre 2012. Diese Simulation, so erklärt ein Sprecher den Zuschauerinnen und Zuschauern, die nun mit Kopfhörern bestückt draussen Platz genommen haben, stammt aus einer fernen Zukunft, 700 Jahre nach unserer Zeit. In einem wissenschaftlichen Ton vorgetragen ist zu erfahren, wie die Archäologen und Historiker aus der fernen Zukunft zu ergründen versuchen, wie die Menschen vor 700 Jahren gelebt haben und wie sie ihrem Untergang entgegensteuerten. Hinreissend komisch wirkt es, wenn in dieser Beschreibung kleine Fehldeutungen und im Rückblick nicht deutbare Details auftauchen – was wahrscheinlich auch den Geschichtsforschern von heute unterläuft. Einen besonderen Reiz erhält das Ganze, weil der reale Alltag, der Auto-, Velo- und Tramverkehr, die Passantinnen und Passanten, die dunkelhäutigen Asylbewerber auf den Bänken sowie ein zufällig vorfahrendes Polizeifahrzeug, zum Teil der Szenerie werden. Auch hier verschwimmen Fiktion und Realität.
Dieser rührend-komische Rückblick auf unser Leben in der Stadt hat ganz aufschlussreiche Momente, vom ganz grossen Erkenntnisgewinn kann aber kaum die Rede sein. Zumindest inhaltlich. Denn von der Form her und in ihrer hinreissend verspielten Fantasie zeigt die Truppe, was im Theater auch jenseits der literarischen Bühnenkonvention alles möglich ist. Und wie vergnüglich Abstecher an und über die hergebrachten Spartengrenzen sein können. «Urwald» ist ein äusserst gelungenes Projekt, das ausserhalb des institutionellen Theaters entstanden ist. Man darf nun sehr gespannt darauf sein, wie sich Far A Day Cage künftig innerhalb des Stadtheaterbetriebs schlagen wird.

(Dominique Spirgi, Tageswoche, 4.9. 2012)

Was wollen die Spätmenschen


Far A Day Cage mit «Urwald» und Bret Bailey mit "MedEia" am Theaterfestival Basel

Einfach ein paar Kopfhöher überstülpen, und schon sieht die Welt verändert aus. Das Areal des Kulturzentrums Kaserne Basel schaut einen an einem ganz normalen Spätsommerabend plötzlich fremd an - kein Wunder: Befindet man sich doch in einer Realsituation der letzten Epoche der Menschheit, hergestellt von ihren Nachfolgern 700 Jahre später. Ein paar Jahre nach 2012 soll es zu einem unerklärlichen "Big Change" gekommen sein, der die Menschen vernichtet hat. Man hat aes also in Basel mit dem Spätmenschen zu tun, wie er in eine Tram steigt, auf dem Fahrrad sitzt, mit der "Plastiktüte" vorbeiflaniert oder einem "Vierrädler" vorbeifährt. Was wollen sie nur, diese Spätmenschen, sinniert die Stimme im Ohr. Ja, was wollen sie eigentlich?

Far A Day Cage, die freie Gruppe um den gebürtigen Wiener Tomas Schweigen, der ab der demnächst beginnenden Spielzeit gemeinsam mit Simon Solberg das Schauspiel am Theater Basel leitet, begibt sich in ihrer neuen Produktion in den "Urwald" - vor und nach dem Zusammenbruch der Zivilisation. Die Performance, die beim Theaterfestival Basel ein Publikumsrenner war, hat es in sich. Sie ist, was man erst später mitbekommmt, simultan zweigeteilt: die Schauspieler hechten zwischen dem rustikalen Inneren einer Alphütte und dem Draussen der so genannten Realsimultation hin und her. Das weiss der Zuschauer aber erst, wenn er den zweiten Teil des Abends geniesst, also von drinnen nach draussen oder von draussen nach drinnen gewechselt hat und damit natürlich auch die Perspektive: aus der fernen Zukunft in die Gegenwart des Bödmerenwald im Schwyzer Muotathal, wo die fünf Schauspieler von Far A Day Cage im Winter mehrere Wochen lang gelebt und geprobt haben, was über auf die Fenster projizierte Videoaufnahmen von tief verschneiter Landschaft sichtbar gemacht wird. Die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, nach dem einfachen Leben ohne technologische Aufrüstung - noch nicht mal Skier stehen den Aussteigern zur Verfügung - schlägt um in die Angst vor dem Unberechenbaren, wenn es irgendwo knackt oder in der Hütte plötzlich das Licht ausgeht. Auf der anderen Seite fällt es schwer, auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation zu verzichten - heimliche Chipsorgien und der Kauf von Cola sind die nicht regelkonformen Reaktion, die entsprechende Wutattacken der anderen auslöst.

Draussen kann man von der Holzbank vor der Hütte aus statt wildem Schweizer Wald eingehegte Basler Bäume begutachten - und es fällt einem tatsächlich zum ersten Mal auf, in welchen Gefängnissen die kolonisierten Stadtbäume leben müssen. Überhaupt: Die Population geht weltweit um 13 Prozent jährlich zurück, erfährt man - das gilt nicht nur für Bäume, sondern auch für das Reproduktionsverhalten der Spätmenschen - bei einer Fruchtbarkeitsrate von 0,7 Kindern pro Frau. Angesichts des spätmenschlichen Balzverhaltens ("Ich bin bereit") ist das allerdings kein Wunder. Wenn auch nicht jeder futuristische Menschenwitz zündet: Man fühlt sich von Far A Day Cage niveauvoll und hintergründig unterhalten.

(Badische Zeitung, 6.9.2012)