WARUM HAMLET?


Einen kuriosen Titel hat sich die Zürcher Gruppe Far A Day Cage für ihre neue Produktion im Theaterhaus Gessnerallee ausgesucht: „Hamlet anschliessend Publikumsgespräch“. Kurios, aber treffend.

Publikumsgespräche im Theater sind berüchtigt für die verkrampfte Lockerheit, mit der die Beteiligten den Pflichttermin absitzen. Die Dramaturgin verbeisst sich in eine umständliche Frage, der Regisseur hüllt seine Antwort in wolkige Monologe, die Schauspieler dürfen endlich mal nuscheln und der Bühnenbildner nutzt die Zeit, in der er ohnehin nie etwas gefragt wird und meditiert über seine Fingernägel.
Auf diese Weise verhockt eines der originellsten Theaterkollektive den Einstieg in die berühmteste Tragödie der Welt. „Hamlet“ ist kein ungeheuerliches Drama mehr, sondern degeneriert zum Smalltalk-Stoff. Far A Day Cage parodieren diese Schrumpfform des Bildungstheaters sehr vergnüglich: Jesse Inman rezitiert „Hamlet“ auf Klingonisch und kennt neben den Startrek auch sämtliche Mangaversionen. Philippe Graff erzählt mit der Unverfrorenheit des Titeldarstellers, wie er sich von Mel Gibson, Kenneth Branagh und Laurence Olivier befreit hat. Vera von Gunten quatscht im Namen aller unterorderten Ophelias dazwischen und versichert dass es ihr mit Kate Winslet durchaus ähnlich ergangen sei.

NAH AM IDEAL. Eine Frage allerdings macht die redselige Runde mundtot. Eine Frage, die sich jeder Theatermacher stellt, meistens heimlich. Warum Hamlet? Auch Regisseur Tomas Schweigen – den das Theater Basel für kommende Saison engagiert hat (naja, erstmal nur fürs Weihnachtsstück) – tut so, als suche er lieber nach einem Weg „die Erwartung des Publikums an eine Inszenierung zur Erinnerung an eine Inszenierung zu machen“. Nun, mit diesem Stück ist er nach dran an seinem Ideal. Jedenfalls streifen die Schauspieler jetzt Kostüme über. Jesse Inmans Coaching stammt von Shakespeare, es sind Hamlets Anweisungen an die Schauspieler der „Mausefalle“, jenes Spiels im Spiel, mit dem der Dänenprinz den König Claudius des Mordes an seinem Vorgänger überführt, an Hamlets Vater. Damit sind wir drin. „Hamlet“ anschliessend ans Publikumsgespräch. Wenn auch zunächst als Backstage-Komödie. Das Ensemble simuliert eine Vorstellung im Off; wir Zuschauer hingegen erleben das Geschehen hinter der Kulisse – man weiss bei Shakespeare eben nie, wer alles hinter dem Vorhang horcht. In diesem Fall ein ganzes Publikum.

SEHENSWERT. Mit der Beichtszene schlägt die Inszenierung eine weitere Volte. Die Handlung dreht sich im wörtlichen Sinn: Nun kniet Claudius (sehenswert Silvester von Hösslin) vor uns und betet. Hamlet fällt ihn an, schlägt und schleift ihn. Das steht nicht bei Shakespeare, aber Tomas Schweigen hat die Idee einer Actionszene, „die sich nur in Hamlets Kopf abspielt“. „Das kapiert doch keiner“, protestiert die Dramaturgin. Also stopp. Hamlet verschwindet, Claudius wendet den Kopf, irritiert. Wer da? Ein Geist? Schlug ihn sein schlechtes Gewissen? In Szenen wie dieser offenbaren Far a Day Cage eine Leichtigkeit, gepaart mit Tiefsinn, die ihresgleichen sucht. So gekonnt schwebt Schweigens „Hamlet“ über die Trennlinie von erzählerischem und postdramatischem Theater. So locker überwinden die Darsteller die Kluft zwischen Clownerie und High-Drama.

Am Ende ringen die Todfeinde einander nicht mit dem Florett sondern mit Hängen, Gift und Würgen nieder. Und der Regisseur sinniert mitten in die pantomimische Schlächterei über das Wesen finaler Theateraction: Meistens gehe der Showdown schief, so wie alle grossen Pläne. „Man nennt das ach Schicksal“.

Bei Far A Day Cage ist aber gar nichts schief gegangen. Warum also noch Hamlet? Wegen einem Stück mit grosser Geschichte. Und einer Gruppe mit grosser Zukunft.
Basler Zeitung 03.06.2011/ Stephan Reuter

DER GESPIELTE HAMLET


Die Zürcher Schauspieltruppe Far A DAY CAGE um Regisseur Tomas Schweigen nimmt sich Shakespeares „Hamlet“ vor. Und droht mit einer Publikumsdiskussion über das viel gespielte Stück.

Ein gelber Vorhang und eine Reihe (noch) leerer Stühle. Der Anfang lässt nicht gerade auf eines der prallsten Werke der gesamten Theaterliteratur hoffen. Und so beginnt es auch: manierlich: Und ein bisschen langweilig, akademisch. Denn: Angekündigt für den Premierenabend vom Dienstag im Theaterhaus Gessnerallee ist nicht nur Shakespeares Dauerbrenner „Hamlet“, sondern auch ein Publikumsgespräch. So nehmen auf den Stühlen nach und nach Regisseur Tomas Schweigen, Dramaturgin Linda Best, Bühnenbildner Stephan Weber, Lichtmacher Demian Wohler sowie die Spieler Philippe Graff, Vera von Gunten, Silvester von Hösslin und Jesse Inman Platz. Ein paar Phrasen, ein paar Worthülsen, ein paar Clichés? Man fragt sich: warum Shakespeare? Und wenn ja wie? Bis Jesse, der gebürtige Engländer, das erlösende Wort findet: why not?

Vor der Bühne ist...
Damit ist der geniale Anfang gemacht. Shakespeare, der grosse Theaterpraktiker, hat akademisches Geplänkel um und über das Theater immer wieder souverän unterlaufen: mit dem Theater per se. Und oft sogar mit dem Spiel im Spiel als einer möglichen Antwort auf die Frage nach Wahrheit. Im „Hamlet“ will bekanntlich der verstörte Dänenprinz den fiesen Oheim entlarven der seinen Vater tückisch gemeuchelt hat, um sich des Throns zu bemächtigen. Da kommt ihm eine fahrende Schauspieltruppe eben recht: Sie soll durch ihr Spiel die Wahrheit an den Tag bringen.
... hinter der Bühne

Unversehens geraten auch wir, die Zuschauer, hinein ins Spiel. Wir sitzen plötzlich nicht mehr vor dem gelben Vorhang, sondern dahinter. Vor unseren Augen schlüpfen die Schauspieler in die unzähligen Rollen und durch die Falten hinaus - hinüber? - auf die Bühne, von wo alsbald die berühmten Sätze herüber klingen. Und zur Unterhaltung der legendären Eingangsszene mit dem Gespenst blasen die Techniker tüchtig Rauch hinaus auf die Bühne lässt der Operateur sein elektronisches Instrument, Theremin genannt, wabern und aufjaulen. Selten hat man weniger von diesem bühnenwirksamen Auftritt gesehen, und selten war er so suggestiv und bildstark. Ein Exempel dafür, wie sich im genuinen Theater Realität und Bühnenrealität gegenseitig durchdringen und befruchten. Irgendwann wissen wir tatsächlich nicht mehr, wo wir sitzen. Im Spiel? Was ist die Wahrheit, was Fiktion? Was ist zu sehen, was spielt sich nur im Kopf ab?

Mit unbändiger Spiellust stürzen sich die Spieler ins Geschehen spucken sich gegenseitig über die linke Schulter und lassen die Theatermaschine schnurren, ohne sie auch nur einen Moment leerlaufen zu lassen.

In 90 Minuten laviert sich die hochvirtuose Truppe durch das komplexe Stück und liefert, besser, als es jegliche theoretische Abhandlung tun könnte, ein fulminantes, spannendes Beispiel dessen, was Theaters ist und vermag.
Basellandschaftliche Zeitung 03.06.2001/ Bruno Rauch


HAMLETS GEIST


Wer sich an „Hamlet“ wagt, braucht Mut. Die Inszenierung von Far A Day Cage optiert für Witz, indem sie Shakespeares Stück spielend kommentiert.

Vor dem Stück ist nach dem Stück – die Neuproduktion der freien Gruppe Far A Day Cage heisst zwar „Hamlet. Anschliessend Publikumsgespräch“, verkehrt aber die Reihenfolge: Stühle stehen vor dem Vorhang bereit, das Team nimmt nach und nach Platz und beginnt unter der Moderation von Dramaturgin Linda Best, die Fussnoten zur Aufführung zu sortieren, Beim öffentlichen Brainstorming erläutert Regisseur Tomas Schweigen seine Herangehensweise an den Stoff, erteilt den Schauspielern das Wort, zieht die Bühnenbildner bei und lässt das Theremin vorführen (ein elektronisches Musikinstrument, begabt zum effektvollen Jaulen).

Praktische Theorie
Ein charmanter Volkshochschul-Auftakt auf der Bühne, welcher praktischerweise aufgreift, was sonst in den Programmheft-Beipackzetteln verstaut wird. Elisabethanische Theaterpraxis, Klischeevorstellungen rund um Shakespeare und seinen „Hamlet“, Schwellenängste der Darsteller im Hinblick auf Star-Vorbilder Halbwissen des Publikums und dessen Erwartungshaltung: All das streifen die Truppenmitglieder in entspanntem Plauderton. Der Witz dabei ist, dass sie so einerseits den Inhalt des Stücks punktuell repetieren und andererseits auf Fragestellungen hin fokussieren, mit der sich jede „Hamlet“-Produktion konfrontiert sieht. Mit ihrer Turbo-Zusammenfassung gibt die Dramaturgin, passend zum Twitter-Zeitalter, einen Gesamtüberblick, während Jesse Inman die Sekundärliteratur vom japanischen Manga bis zu einem Essay seines britischen Landsmanns Steven Berkoff evoziert: „I am Hamlet“ – inwiefern stimmt die kühne Aussage?
An dekonstruktivistischen Ansätzen fehlte es freilich auch bisher nicht, wenn es um die Inszenierung dieses Meisterwerks ging, dem wie wenig anderen Dramen das Theater-im-Theater-Thema eingeschrieben ist: Sein, Nichtsein und Schein. Peter Brooks „Quie st là“ war einst am selben Ort zu Gast; Christoph Schlingensiefs – echte oder falsche – Neonazis verunsicherten die Abonnenten im Pfauen; Jan Bosse flirtete in der Schiffbauhalle mit dem Einbezug der von Zuschauern, die sich als Schauspieler entpuppten. Bloss Peter Zadek, dessen monumentaler „Hamlet“ ebenfalls in Zürich gastierte, verzichtete auf solche Regieeinfälle.
Bei Far A Day Cage wirkt das postmoderne Spiel mit dem Spiel locker, wenn auch mehr pädagogisch als genial. Unmerklich geht das Meta-Theater über in Szenen – abenteuerliche Kostüme und Schminke inbegriffen. Aus der Backstage-Perspektive hören wir berühmte Texte von jenseits des Vorhangs, bis dieser sich hebt und den Blick auf leere Ränge hinter der Bühne freigibt. Nebel füllt den Raum, als Hamlets Geist erscheint, der über allem waltet, durchaus mehrdeutig und völlig unpathetisch. Szenische Zitate fügen sich zur abgekürzten Story; die Figuren, Mehrfachbesetzungen, verwandeln sich vor unsern Augen und erhalten manchmal ein Coaching durch den Regisseur.

Vom Schluss zum Anfang
Silvester von Hösslin wechselt ulkig-behände zwischen Claudius und Polonius, Philippe Graff zwischen Hamlet und Laertes, Vera von Gunten zwischen Gertrude und Ophelia. Für letztere reicht der ironische Modus dann doch nicht aus, sie singt ihren Seelenschmerz ins Mikrofon: Eine Verlegenheitslösung.
Den Showdown blendet der Kommentar des Regieteams aus, das Ende geht in den Anfang über. Schon warten Stühle fürs Publikumsgespräch. Aber kritische Fragen zum – bei aller Sympathie – doch recht bescheidenen Spass verhindert jetzt der tosende Applaus.
NZZ 03.06.2011/ Barbara Villiger Heilig

FAR A DAY CAGE SPIELT HAMLET


"Far a Day Cage" ist eine der aufregendsten Zürcher Theatergruppen. "Hamlet" einer der grössten Theaterklassiker. Im Theaterhaus Gessnerallee treffen sie sich zu einem inspirierenden Auftritt.

Hamlet: ist er wahnsinnig - oder spielt er es nur? Oder spielt er gar, dass er es spielt? (zvg)

"Sein oder nicht sein" das ist die grosse Frage. Warum überhaupt Hamlet? Oder wie soll man ihn heute inszenieren? Im Theaterhaus Gessnerallee ist das Publikum zum mitdiskutieren eingeladen. Denn bei der Gruppe "Far a Day Cage" wird nicht einfach Shakespeare gespielt. Da wird Shakespeare aufgemischt und neu zusammengesetzt. Hier der dazugehörige Potcast

Schweizer Radio DRS 01.06.2012/ Cordelia Fankhauser

HINTER DEM VORHANG


Dass beim Hamlet oft unklar bleibt welche Rollen gespielt werden, gehört zum Thema jeder Schullektüre. Über diesem Stück liegt der Schleier des Unwissens. Warum also nicht mal den Blick hinter die Kulissen frei geben und dem Polonius beim Bespitzeln hinter dem Vorhang als Beobachter zuvorkommen, dachte sich die Gruppe Far A Day Cage um Regisseur Thomas Schweigen.

In ihrem Hamlet herrschen nicht nur auf der Bühne verkehrte Verhältnisse, es wird auch eine verkehrte Sicht der Dinge präsentiert: Die Sicht der Hinterbühne. 

Die Idee von Schweigen und seiner Crew ist so einfach wie genial: Was passiert, wenn man die Erwartungshaltung des Publikums so formt, dass das Stück bereits da ist, bevor es aufgeführt wird? Gerinnt die Erwartung dann zur Erinnerung? Und: Brauchen wir das Stück dann überhaupt noch? 
Und so werden wir erstmal nicht mit Hamlet, sondern mit einem Gespräch über Hamlet konfrontiert.

Im vorgezogenen Publikumsgespräch, das ohne vorangegangenes ästhetisches Bühnenerlebnis eingeleitet wird, wird man eingesogen in den schier unendlichen Hamlet-Diskurs: Schauspieler offenbaren ihre Kämpfe mit dem Text, verraten dem Publikum ihre theoretischen Überlegungen zu den kniffligen Schlüsselstellen und der Zuschauer beschäftigt sich mit einer Inszenierung, an deren Aufführung er schon gar nicht mehr zu glauben wagt. 
... bis der Einstieg ins Stück dann doch gelingt. Und zwar furios, im Loop, über die berühmte Schauspielszene des Hamlet: Die Schauspieler ziehen sich um, steigen über die Hinterbühne in das Stück, landen in der Binnenhandlung und dann im sanften Übergang in der Rahmenhandlung der Vorderbühne, die der Zuschauer aus dem Off zwar nicht zu sehen, aber zu hören bekommt. Zwischen Hinterbühne und Bühne hängt der Vorhang. 
Aber eigentlich ist das egal. Denn der Gang der Dinge ist ja allen bekannt. Und so treten die Texte, die auf der anderen Seite des Vorhangs gesprochen werden, in den Hintergrund. Stattdessen werden wir zum Zeugen der Hinterbühne, auf denen Missgeschicke passieren, sich nervös auf die Schultern geklopft und Kleider gewechselt werden. Dabei fallen Rezeption und Schauspiel mehr und mehr zusammen, etwa, wenn uns Produktionsleitung, Regisseur und nervöse Schauspieler mit Metakommentaren auf die Finessen ihres Stücks aufmerksam machen.


Und was bekommen wir zu sehen? Die Dinge, die wir nur aus zweiter Hand kennen: Polonius, der hinter dem Vorhang zum Spitzel wird, der mit Ophelia flirtende Hamlet, und der Geist des Vaters, dessen Aura auf eine simple, von zwei Technikern bediente Nebelanlage reduziert wird. Erstaunlich, dass die Tragik des Textes bei soviel Entmystifizierung nicht geschmälert werden kann. 
Zu verdanken ist das letztendlich unseren Vorstellungen von Hamlet, mit denen wir die Bilder auf der anderen Seite des Vorhangs für uns erschaffen. Auch Hamlets hypothetischer Mordversuch an Claudius, als Actionszene inszeniert – ein kreativer Einfall des Regisseurs – bleibt lächerliches Kopfkino. Denn Handeln ist Hamlets Ding nicht, das wissen wir, und letztlich auch die Beteiligten. 
Die Schlussszene am Grab bringt dann wieder Tempo in die Handlung.

Wie ein Actionfilm gehen die Beteiligten aufeinander los. „Jetzt kommt der Showdown“, denkt man bei sich. Und Schweigen erhebt sich von seinem Zuschauerplatz und greift zum Mikrophon. „Das ist so eine Sache mit diesem Showdown“, ruft er. Und auf einmal ist sein Ziel aufgegangen: Erwartung und Bühnenstück sind deckungsgleich geworden.
Mission accomplished.
Kritik 4 You 08.06.2011/ Julia Stephan, Permalink Zürich


IST DIES SCHON TOLLHEIT, HAT ES DOCH METHODE


Hamlet, das grosse Theater, Hamlet, der unmöglich Stoff. Scheitern oder Bestehen – Sein oder Nichtsein. Grosse Erwartungen liegen in der Luft. Was ist nach über 400 Jahren noch übrig von diesem gigantischen Drama, dessen Bedeutung wohl nicht überschätzt werden kann?

Die Diagnose lautet, dass dieses Stück eines ist, das schon längste nicht mehr über den Text selbst zugänglich ist, da dieser bereits durch eine unendliche Anzahl von Mündern gepresst und über unzählige Bühnen geschleift wurde. Nichts erscheint der Zürcher Theatergruppe um Tomas Schweigen also logischer als es komplett zu streichen. Ohne an dieser Stelle allzu viel verraten zu wollen – nachdem das Ensemble uns von diesem Konzept überzeugt hat, legt es entgegen aller theoretischen Überlegungen doch los und inszeniert für uns den Hamlet.

Zusammengestaucht, verdreht und grossartig! Inkonsequent vielleicht, diese „trotzdem Inszenierung“, aber notwendig. Und sehr unterhaltsam.

Ausserdem: Versprochen ist versprochen. Ohne einen Hamlet möchte ja heute niemand nach Hause gehen. (...)
Kritik 4 You 08.06.2011/ Nina Breher, Permalink Zürich

NUR EIN SCHÖNER TRAUM


"Hamlet, anschliessend Publikumsgespräch" heisst der Abend im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee, der damit beginnt, dass die Mitglieder von Far A Day Cage als Karikaturen ihrer selbst über die Arbeit an einer "Hamlet"-Inszenierung berichten, die wir gerade gesehen hätten. Das macht Spass!

Denn da es sich um die Persiflage eines Publikumsgesprächs handelt, darf man ganz offen über die Floskeln, die Plattitüden und das angelesene Wissen lachen, mit denen solche Diskussionen so oft bestritten werden: "Megagern" habe er die Sprache von Shakespeare, sagt der Hamlet-Darsteller Phillipe Graff. Die Produktionsdramaturgin Linda Best gibt einen Gedanken aus Jan Kots "Shakespeare heute" zum besten, und der Bühnenbildner Stephan Weber erzählt von einem Ausflug ins Technorama, wo er nach Inspiration für den Geist suchte, den er für die Inszenierung brauchte. Zugleich gibt das inszenierte Publikumsgespräch Raum für Abseitiges aus dem Shakespeare-Kosmos: Jesse Inman hat Hamlets "Sein oder Nichtsein"-Monolog auf Klingonisch gelernt (einer Sprache aus Star Trek), worauf auf der Bühne die hitzig-witzige Diskussion ausgetragen wird, ob Klingonen denn Gefühle empfinden Können.

Leerlauf und Klischees
Während dieser Diskussion hegt man die Hoffnung, die Gruppe um den Regisseur Tomas Schweigen könnte mit ihrem inszenierten Publikumsgespräch über den selbstreferenziellen Witz und die Verhandlung von Klischees hinausgehen: Man hat die Erwartung, aus den im Gespräch gestreuten Hinweisen würde die "Hamlet" Inszenierung allmählich entstehen - in der eigenen Vorstellung und damit in jedem Zuschauerkopf anders. Damit würde der Traum wahr werden, von den Tomas Schweigen uns erzählt: Er träumt davon, dass er alle Zuschauererwartungen zusammennehmen und diese mit seiner Inszenierung in Erinnerung überführen könne. Ein schöner Traum! Und bis zu diesem Moment schein er sogar greifbar. Doch alles, was darauf folgt, arbeitet seiner Realisierung entgegen: Mit Hamlets Worten an die Schauspieler, mit denen er die Inszenierung seiner "Mausefalle" vorbereitet, wird das Publikumsgespräch aufgehoben.

Far A Day Cage wechselt vom Spiel ins Spiel, vom inszenierten Publikumsgespräch in die Szenen aus "Hamlet" - zunächst hinter dem noch immer geschlossen Vorhang und schliesslich auf offener Bühne. Gewiss, " Far A Day Cage " spielt durchgehend mit den verschiedenen Spielebenen; Kommentare unterbrechen die Shakespeare Szenen, und am Ende beginnt wieder eine Publikumsdiskussion, - diesmal hinter dem geschlossenen Vorhang und vor den auf der Bühne aufgebauten Zuschauerreihen, womit sich der Abend zu einer Endlosschleife rundet. Doch trotz Spiels mit den Ebenen, der Spiegelung und der Rekursion erreicht " Far A Day Cage" mit ihrem "Hamlet" kein interessantes Reflexionsniveau, sondern produziert im zweiten Teil ihres Abends nur noch Leerlauf - und Klischees.
Tages Anzeiger 03.06.2011/ Andreas Tobler


"Hamlet"– ein Palaver


Hamlet. Anschliessend Publikumsgespräch»: Die Gruppe Far A Day Cage des jungen designierten Basler Schauspiel-Kodirektors Tomas Schweigen seziert in der Reithalle der Kaserne Basel das Prunkstück aller Theaterstücke – mit viel hintergründigem Witz, aber leider nicht ganz so viel Erkenntnisgewinn.

"Warum Hamlet?", fragt die Dramaturgin Linda Best den Regisseur im "anschliessenden Publikumsgespräch", das hier entgegen der Ankündigung im Titel und dem normalen Ablauf im Theater vorangestellt ist. Eine simple, ja geradezu banale Frage, auf die aber niemand in der Stuhlreihe auf der Bühne eine Antwort weiss. «Das war jetzt nicht abgesprochen», verheddert sich Regisseur Tomas Schweigen und auch die Schauspieler wissen rein gar nichts darauf zu antworten. Dafür aber wird viel und vor allem bedeutungsschwanger darüber palavert, wie man sich als Theaterleute heute von den alles überragenden Vorbildern und Klischees der Theaterikone «Hamlet» lösen kann, wie man den Geist von Hamlets Vater heute auf die Bühne bringt oder wie «Sein oder Nichtsein» auf Klingonisch klingt.

HAMLET ist alles, was Ihr wollt
Das ist sehr witzig und zugleich herrlich hintergründig, denn die Truppe rund um Tomas Schweigen versteht es trefflich, die Abgründe der plumpen Persiflage zum umgehen. Mit dem Palaver über «Hamlet» sagen sie auch sehr viel über den «Hamlet» von heute aus, denn Shakespeares Text ist viel mehr als ein Klassiker, bei dem es am Schluss acht Tote gibt, wie die Dramaturgin in ihrem knapp gescheitertern Versuch, den Stoff in 30 Sekunden nachzuerzählen, bekanntgibt. «'Hamlet' ist eine Tragödie der Liebe, der Familie, des Staates, es ist eine philosophische, eschatologische und metaphysische Tragödie. Alles, was ihr wollt!», wie der bekannte Shakespeare-Kenner Jan Kott schreibt. Unmöglich also, den so vielseitigen Erwartungen des Publikums an die «Mona Lisa der Literatur» zu entsprechen, was den Regisseur Tomas Schweigen denn nach eigener Aussage (im Stück) dazu bewegt, alle Erwartungen in einem inszenatorischen Fass zur Kollektiven Erinnerung vergären zu lassen. Das kann natürlich nicht gut gehen. Oder geht nur fast gut, wie sich sodann nach dem Übergang von der gespielten Reflexion zum gespielten Spiel zeigt.

Das Spiel im Spiel im Spiel
Das eigentliche Spiel beginnt mit der berüchtigten «Mausefalle», dem von Hamlet (Jesse Inman als zumeist englisch sprechender «Quoten-Engländer») initiierten Spiel im Spiel, das zur Entlarvung des Mörders von Hamlets Vater beitragen soll. Dieses wird hier zum Spiel im Spiel im Spiel, welches – das Publikum wohnt dem Geschehen von der Hinterbühnenperspektive aus bei – vorerst hinter dem geschlossenen goldenen Prospekt verborgen bleibt. Zu hören ist Shakespeares Text wohl, zu sehen aber ist nur, was die Theaterleute, die ihre Gesichter mit viel Schminke zu voodoo-artigen Fratzen verstellt haben, vor und nach ihren Auftritten treiben. Hier versickert nach und nach der hintergründige Witz des Beginns, erst recht von dem Moment an, wenn sich der Vorhang öffnet und den Blick in einer dritten Spielebene schliesslich auf das Geschehen auf der Bühne freigibt. Zu sehen ist dann die Schauspieltruppe, die mit ganz und gar vordergründigem Ernst den «Hamlet» gibt: mit Silvester von Hösslin in der Doppelrolle von Polonius und Claudius, Vera von Gunten als Getrude und Ophelia, Philippe Graff als Laertes sowie Bühnenbildner Stephan Weber und Techniker Demian Wohler als Rosenkranz und Güldenstern.

Warum "Hamlet"?
Zu erleben sind natürlich nur einige wenige Versatzstücke aus der nicht nur grossen, sondern auch langen Tragödie. Das Ganze wird mit viel Engagement und Virtuosität dargebracht. Und doch lässt die Spannung und das Vergnügen, dem Treiben auf der Bühne zuzuschauen langsam aber stetig nach. Nur noch für ganz kurze Momente stellt es sich wieder ein, wenn der Regisseur die zuweilen schleppende Handlung mit Action-Einschüben aufzupeppen versucht, die aber von der Dramaturgin sogleich als unbrauchbar verworfen werden. Alles in allem kann somit der Abend das grosse Versprechen, das er mit seinem Einstieg abgibt, nur bedingt einhalten. Am Schluss wenn alle Figuren im fulminanten Showdown ihren Bühnentod gefunden haben, ist man wieder dort, wo alles begonnen hat. Beim Publikumsgespräch. Und bei der nach wie vor unbeantworteten Frage: «Warum Hamlet?»
Tageswoche Mitternachtskritik 29.3.2012, 00:25 Uhr/ Dominique Spirgi